Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
musste sie von den Machenschaften ihres Mannes mitbekommen haben, womöglich war sie sogar involviert gewesen. Hatte sie deswegen nach seinem Tod einen Schlussstrich gezogen und alles hinter sich lassen wollen?
»Ich frage nur, weil es eine Menge Leute gibt, die ein Mordmotiv gehabt hätten: erstens sein ehemaliger Geschäftspartner Alberto Sánchez …«
Sie seufzte ungehalten und die Kamera, die über dem Tor befestigt war, veränderte mit einem leisen Surren ihren Winkel.
»Es war Selbstmord! Niemand hat ihn umgebracht. Verabschieden Sie sich von Ihren abstrusen Verschwörungstheorien! Der Wagen meines Mannes wurde im Wald gleich neben diesem Steg gefunden, an der vermutlichen Sprungstelle klebte Blut am Brückengeländer, das eindeutig seins war. Weder die Polizei noch ich hatten den geringsten Zweifel …«
»Was ist mit Ihnen? Hatten Sie einen Grund, ihn umzubringen? Hat vielleicht Ihr russischer Liebhaber Grüninger über das Brückengeländer geschmissen und es wie Selbstmord aussehen lassen?«
»Ihre Behauptungen sind widerwärtig und infam!« Jetzt wurde sie wütend, ihre Stimme schepperte richtiggehend aus der Anlage. »Kurz vor seinem Tod hat mein Mann vom Arzt den niederschmetternden Bescheid erhalten: Er litt an Alzheimer. Es gab schon länger Anzeichen, doch nach dem Befund verschlechterte sich sein Zustand rapide. Der Freitod war seine Art, diese Welt in Würde zu verlassen.« Vorwurfsvolles Schweigen schlug mir aus dem Lautsprecher entgegen.
»Das wusste ich nicht«, gab ich kleinlaut zu.
»Informieren Sie sich zukünftig besser, bevor Sie jemanden beschuldigen!«
»Es tut mir leid.« Ich nickte zum Abschied zur Kamera hinauf und trollte mich wie ein begossener Pudel.
Ich hatte die Musik aufgedreht, das Fenster heruntergekurbelt und tröstete mich mit der Fernsicht auf das grandiose Alpenpanorama. Bonnie Tyler röhrte sich mit kratzender Stimme durch einen bombastischen Klassiker aus den Achtzigern und fragte sich besorgt, wo bloß all die guten Männer und Götter von einst geblieben waren. Während sie ihrer Sehnsucht nach einem Helden lautstark Ausdruck verlieh, fühlte ich mich wie das pure Gegenteil. Ich war kein Held. Dieser Fall hatte mich von verschlossenen Türen zu unglaublich vergesslichen und sturen Leuten geführt, und obschon er eigentlich abgeschlossen war, konnte ich mich des frustrierenden Gefühls nicht erwehren, rein gar nichts erreicht zu haben. Selbst als ich Noemis Vater endlich aufgespürt hatte, war die große Erleichterung ausgeblieben. Zu ausgebrannt war der Mann, der Verlust seines Kindes hatte ihn jegliche Lebensfreude gekostet. Zu einer dieser tränenreichen Familienzusammenführungen, wie sie in TV -Shows so gerne zelebriert wurden, würde es hier wohl kaum kommen.
Jäh überkam mich die Lust nach einer Zigarette. In der Nähe gab es vermutlich keinen Kiosk, denn ich war ein gutes Stück den Berg hochgefahren, um die peinliche Niederlage durch die Gegensprechanlage zu verdauen.
In der Hoffnung, dass vielleicht Miranda ein Päckchen Fluppen im Wagen vergessen hatte, ließ ich das Handschuhfach aufspringen. Zigaretten fand ich zwar keine, dafür quollen mir die Papiere entgegen, die ich in Grüningers Büro hatte mitgehen lassen. Ich hatte komplett vergessen, dass ich sie hier verstaut hatte.
Ich hielt am Straßenrand an, kramte die Verkaufsbelege heraus und überflog sie. Andrea Tschanz hatte offenbar alle Immobilien, die Grüninger erstanden hatte, kurz nach seinem Tod veräußert. Drei Mietshäuser in Ostermundigen, ein paar Feriendomizile im Berner Oberland, eine Arztpraxis, die er verpachtet hatte. Was von ihm wohl als Altersvorsorge gedacht war, war für seine Witwe dank dem russischen Oligarchen an ihrer Seite überflüssig geworden. Diese Informationen waren zu nichts mehr nütze. Ich wollte die Papiere schon zerknüllen, als mir auffiel, dass auf dem letzten Verkaufsvertrag nicht ihre Unterschrift stand, sondern Grüningers. Ich griff mir das Dokument heraus und las es aufmerksam durch. Es ging um eine kleine Hütte oberhalb Gstaads, die er dem Käufer nur einen Tag vor seinem Selbstmord zu einem lächerlichen Preis überlassen hatte. Mir wurde plötzlich ganz flau im Magen, als ich las, wem sie seither gehörte.
Ich parkte meinen Wagen unterhalb des Waldrands und ging den unwegsamen Pfad, der zur Hütte hochführte, zu Fuß. Noch immer schmerzte mein Knie vom nächtlichen Sturz und ich humpelte leicht. Ein lauer Wind wehte und ließ die Gräser
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