Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
dass jeder Hinterletzte ein Handy besitze. Im Zug, auf der Straße, sogar im Kino und beim Essen, einfach überall brüllten die Inder ununterbrochen in diese Apparate. Er verstehe das nicht, zu seiner Zeit habe es nicht so viel zu besprechen gegeben. Auch verbringe die Verwandtschaft, die ihn herzlich aufgenommen hatte, ganze Wochenenden mit Rolltreppenfahren in irgendwelchen Shoppingmalls, danach suche man eines dieser Fast-Food-Restaurants auf. Was zur Folge habe, dass keine meiner Cousinen in der Lage sei, ein anständiges Masoor Daal zuzubereiten.
»Kochen können sie nicht, aber immer dicker werden schon! Kein Wunder ist keine von denen verheiratet, dabei ist die Älteste auch schon einundzwanzig!«, hatte er gewettert, jedoch blitzschnell das Thema gewechselt, als ich mit Schweigen reagiert hatte.
Wirklich entrüstet schien er aber über die jungen Frauen zu sein, die teilweise in körperbetonter, westlicher Kleidung herumliefen. Beschämend sei das! Das untergrabe die Moral und die indische Kultur! Er habe auch schon schamlose Küsse auf offener Straße beobachtet, und in der Werbung sähe man beinahe mehr nackte Haut als auf den Aushängen des Erotikkinos Roland an der Langstrasse! Das sei nicht mehr das Indien, das er kenne!
»Die Zeiten ändern sich, Pitaji «, versuchte ich meinem Vater zu erklären. »Auch in Indien.«
»Hai rabba! Wohin soll das bloß führen?«, rief er aus und verstummte dann vorwurfsvoll.
Doch ich verstand ihn nur zu gut: Jener Ort, nach dem er sich all die Jahre in der Schweiz zurückgesehnt hatte, existierte nicht mehr. Meine Behauptung, seine Sicht auf Indien hätte sich mit den Jahren zunehmend verklärt, hatte er nie auch nur ansatzweise gelten lassen. Vielmehr hatte die alte Heimat in seinen Schilderungen jeweils in den buntesten Farben zu schillern begonnen und war zu einer Art Paradies stilisiert worden, in das er zurückkehren wollte, sobald seine Aufgabe in der Schweiz beendet war.
Bei seinen alljährlichen Besuchen hatte er die rapide Modernisierung Indiens ausgeblendet, was für zwei, drei Wochen jeweils problemlos funktioniert hatte. Doch über längere Zeit hinweg war die Realität unmöglich zu ignorieren gewesen. Schlagartig hatte sich mein Vater in einer veränderten Welt wiedergefunden, die ihm nach mehr als vierzig Jahren Absenz fremder war als die Schweiz. Das klassische Dilemma von Einwanderern: Früher oder später landeten sie zwischen Stühlen und Bänken. Alles, was er mit ›Heimat‹ verbunden hatte, war sozusagen über Nacht weggebrochen. Wahrscheinlich wusste er mittlerweile selber nicht mehr, wo dieser Ort war. Ob er überhaupt noch existierte.
»Aber noch ist es zu früh für ihn, in die Schweiz zurückzukehren«, bemerkte meine Mutter bestimmt und riss mich damit aus meinen Gedanken. Sie stellte eine tiefe Kasserolle auf den Herd, in welche sie Senföl aus einer Plastikflasche goss.
»Sagt der Arzt?«
»Haben dein Vater und ich gemeinsam abgesprochen.«
Hatte sie entschieden, übersetzte ich und schielte besorgt zu Mister Namboodiri.
»Ich fliege übers Wochenende nach Madrid«, bemerkte ich beiläufig. Doch zu meinem Erstaunen reagierte sie nicht mit einer dramatischen Aufzählung all der furchtbaren und womöglich lebensbedrohenden Situationen, die mir wenn nicht während des Fluges, so ganz sicher in der fremden Stadt widerfahren würden.
»Wie schön«, summte sie nur und schob fein gehackte Zwiebeln von einem Holzbrett ins vor Hitze glucksende Fett.
Mister Namboodiri wackelte derweil mit dem Kopf und lächelte. Keineswegs zum ersten Mal fiel mir auf, wie gut gelaunt meine Mutter in seiner Anwesenheit wirkte. Tatsächlich legte sie in letzter Zeit eine ungewohnte Leichtigkeit an den Tag, die ich erst fälschlicherweise Manjus tatkräftiger Unterstützung zugeschrieben hatte. Der Zusammenhang zwischen Mister Namboodiris Präsenz und der heiteren Stimmung meiner Mutter war mir erst später aufgefallen.
»Es geht um einen Fall«, erläuterte ich, was sie mit einem abwesenden »Ja, ja« kommentierte.
»Einen ziemlich schwierigen sogar«, doppelte ich nach. Doch sie schien gedanklich anderswo zu sein, wie ich etwas gekränkt feststellte.
Während die Zwiebeln dünsteten, mahlte sie Gewürze in einem Mörser und sang leise vor sich hin. Ich erwischte sie dabei, wie sie hin und wieder verstohlen zu besagtem Stehtisch hinüberschaute. Worauf sich jeweils ein mädchenhafter Glanz in ihre Gesichtszüge schlich. Als Mister Namboodiri jetzt
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