Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
hätten wir billig übernachten können«, erinnerte mich José halbherzig.
»Hättest du das gewollt?«
»Um keinen Preis!«
Wir grinsten uns an. Nicht nur eine lange Schulzeit war uns gemeinsam, sondern auch weitverzweigte Sippen in den jeweiligen Herkunftsländern unserer Eltern. Der Familiensinn ging uns keineswegs ab – wir wussten nur beide aus Erfahrung, wie einengend ein Besuch bei Verwandten sein konnte, egal ob indisch oder spanisch: Gut meinend hätten diese sofort die genetisch nächstliegenden Familienmitglieder zusammengetrommelt, uns üppig bekocht und den ganzen Aufenthalt innert kürzester Zeit mit Besuchen von Sehenswürdigkeiten und weiterer Verwandtschaft verplant, wo man uns wiederum mit Essen vollgestopft und das Aufsuchen noch entfernterer Tanten und Onkel ins Auge gefasst hätte. Innert kürzester Zeit hätten wir so eine Völkerwanderung ausgelöst, Verdauungsstörungen erlitten und unverheiratete Cousinen zur Seite gestellt bekommen. Dabei wäre uns keine freie Sekunde für die Ermittlungen geblieben. Es war eindeutig sinnvoller, wir ließen die Familie außen vor.
Wir stiegen aus und setzten die Sonnenbrillen auf. Im gleißenden Licht erstreckte sich vor uns ein lang gezogener Platz, der von Bars und Restaurants gesäumt war, in der Mitte hatte man unter Schirmen Aluminiumtischchen aufgestellt, die gerade von einem missmutigen Kellner mit Papierservietten und Besteck eingedeckt wurden. Bäumchen wuchsen in den frei gelassenen Lücken des Steinplattenbelags. Die Hitze war schier unerträglich, obschon es noch nicht einmal Mittag war.
»Die Gegend, na ja«, machte José, der jetzt wieder munter wirkte. »Die Plaza de Santa Ana ist eine Touristenfalle, aber für zwei Nächte wird das schon gehen.«
»Immerhin haben wir die Tapasbars gleich vor der Tür.«
»Wusstest du, dass in diesem Hotel oft Stierkämpfer abgestiegen sind?« José hatte sich zum Reina Victoria umgedreht und blickte die Fassade hoch. »Der berühmte Manolete hat immer Zimmer 220 gebucht. Die Jungs sind ja alle so was von abergläubisch.«
»Und was soll ich jetzt mit dieser Information? Wegen mir musst du nicht den Fremdenführer geben.« Ich griff nach meinem Koffer und marschierte auf den Hoteleingang zu.
»Leck mich!«
Eine halbe Stunde später standen wir vor einem senfgelb gestrichenen Haus an der Calle de la Bola, einem knapp wagenbreiten und dank der hoch aufragenden Häuserzeilen angenehm schattigen Gässchen mit Kopfsteinpflaster. Meist vergitterte Fenster und geschlossene Jalousien, von denen die weiße Farbe abblätterte, die schwere Holztür in einem düsteren Eingang – abweisender hätte das Gebäude nicht wirken können.
Mit einem Blick auf die Klingelschilder versicherte ich mich, dass der Orden von der unbefleckten Empfängnis der glücklichen Jungfrau Maria noch existierte, bevor ich auf den Knopf drückte. Schrill zerriss mein Läuten die Stille im Haus und schallte drei Stockwerke über uns aus einem offen stehenden Fenster in die ausgestorben wirkende Nachbarschaft hinaus. Nichts regte sich.
Ich drückte erneut auf die Klingel, worauf von oben eine unmutig krächzende Stimme zu vernehmen war: » No hay prisas! Keine Eile, ich bin ja unterwegs!«
José und ich tauschten einen Blick aus. Ich lehnte mich an die Hauswand und er zündete sich eine Zigarette an. Einen gefühlten Longdrink später, nach dem ich mich nicht allein wegen der drückenden Hitze sehnte, war endlich ein Schlüsselbund zu hören und die schwere Holztür wurde entriegelt. Eine Nonne im klassischen schwarz-weißen Habit starrte uns missmutig an. Sie war geschätzte fünfhundertsechsunddreißig Jahre alt und der leicht offen stehende Mund gab den Blick frei auf zwei partiell ausgedünnte Zahnreihen. Vielleicht waren die Beißerchen aber auch nur schwarz, ganz genau wollte ich das eigentlich gar nicht wissen.
»Was ist?«, knarrte sie auf Spanisch.
» Buenos días, altehrgebärdende Schwester!« Ich hatte keine Ahnung, wie man eine Ordensschwester – und dann noch so eine prähistorische – ansprach. Josés leisem Lachen nach hatte ich auf jeden Fall etwas falsch gemacht.
Das Gesicht der Frau blieb reglos wie das einer Schildkröte.
»Wir würden gern die Mutter Oberin sehen.«
»Leider erlaubt es ihr Zustand nicht, Besuch zu empfangen.« Sie schickte sich an, die Tür wieder zu schließen.
»Es ist wichtig.« José trat einen Schritt vor und sah die Schwester vielsagend an. Sie fuhr jedoch unbeeindruckt mit ihrem
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