Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
entfernte Schlafzimmer gefunden hatte, schien mir doch äußerst erstaunlich. Vor allem in einer labyrinthartigen Wohnung wie dieser. Entgegen der weitverbreiteten These, dass Demenzkranke Mühe hatten, sich zurechtzufinden, verfügte die Mutter Oberin über einen geradezu sensationellen Orientierungssinn.
»Und Sie? Können Sie sich eventuell erinnern?«
Die Nonne richtete sich seufzend auf. »Das habe ich Ihnen doch bereits gesagt! Wieso lassen Sie uns nicht einfach in Ruhe? Wir sind nur zwei alte Frauen, die sich um den Orden kümmern. Und Sie brechen hier unerlaubterweise ein und quälen uns mit diesen sinnlosen Fragen …«
»Sobald ich eine glaubwürdige Antwort erhalten habe, verschwinde ich. Versprochen.«
»Hier hat keine Adoption stattgefunden, nie. Diese Frau muss sich irren.«
»Sie war sich aber ganz sicher! Sie konnte uns sogar die genaue Adresse des Ordens nennen und auch die Mutter Oberin hat sie genau beschrieben!«
»Sie wird etwas verwechselt haben. Gehen Sie jetzt! Die hochehrwürdige Mutter verträgt keine Aufregung und braucht dringend Ruhe.« Auffordernd sah sie uns an.
»Aber sie muss hier gewesen sein«, beharrte ich. »Eine hübsche, junge Frau, von der luxuriösen Sorte …«
Mit grimmiger Miene trat die Schwester auf mich zu. »Wie oft soll ich es Ihnen noch sagen? Wir haben noch nie von dieser Frau gehört! Verschwinden Sie endlich und lassen Sie uns allein!«
Erneut begann sie, mich Richtung Tür zu scheuchen, doch ich rührte mich nicht vom Fleck. Worauf sie unvermittelt zurück zum Bett der Oberin hastete, als suchte sie dort Zuflucht.
»Gibt es vielleicht Unterlagen?« So leicht gab ich nicht auf. »Jemand muss doch Buch geführt haben über die jungen Frauen, die sich hier aufgehalten haben. Und gerade eine Adoption muss doch irgendwo vermerkt worden sein. Sie können mir den Aufbewahrungsort der Akten auch zeigen, ich suche dann die …«
Ruckartig wandte sich die Nonne um und ich verstummte auf der Stelle. Was nicht unwesentlich mit dem kleinen Revolver zu tun hatte, den sie auf mich gerichtet hielt. Sie musste ihn aus dem Nachttisch hervorgeholt haben, die Schublade stand weit offen und gab den Blick frei auf eine in dunkelrotes Leder geschlagene Bibel. Schon wieder wurde ich mit einer Schusswaffe bedroht. Eine Erfahrung, die sich neuerdings zu häufen schien.
»Gehen Sie! Und wagen Sie es ja nicht wiederzukommen!« Die Hand der alten Frau zitterte, als sie die Waffe entsicherte, doch sie hielt den Griff fest umklammert und ihr Kinn war entschlossen vorgeschoben.
Schrittweise bewegten wir uns rückwärts. Dieser Punkt ging eindeutig auf das Konto der Ordensschwestern.
Bevor ich das Schlafzimmer verließ, schaute ich noch einmal zur hochehrwürdigen Mutter. Ihr Gesichtsausdruck war mit einem Mal ganz klar, und als sie jetzt den Kopf zu mir drehte, verzog sich ihr Mund zu einem hämischen Lächeln.
»Und jetzt?« José war immer noch entgeistert. Kein Wunder, nicht jeden Tag wurde man von einer tatterigen Nonne mit vorgehaltener Waffe aus einer Wohnung spediert. Nicht einmal wir.
Ich drückte erneut auf die Klingel im dritten Stock des gegenüberliegenden Gebäudes.
»Da ist keiner zu Hause«, meinte José. »Du hast dich wohl geirrt.«
Ich schüttelte den Kopf. Ich war mir absolut sicher, dass wir beobachtet worden waren, und presste die flache Hand auf alle Klingelknöpfe. Normalerweise erreichte ich auf diese Weise, dass mir wenigstens irgendjemand die Tür öffnete, hier jedoch schienen gerade alle ausgeflogen oder stocktaub zu sein.
»Da war jemand. Die Straße ist so schmal, da bekommt man alles von drüben mit. Ein Nachbar könnte uns sicher Interessantes über den Orden erzählen, vielleicht sogar von den illegalen Adoptionen, die hier stattgefunden haben.«
»Illegal?« José runzelte die Stirn. » Hombre, übertreibst du jetzt nicht ein wenig?«
»Irene Winter hat erwähnt, dass sie der Mutter Oberin Geld bezahlt hat, und zwar nicht zu knapp. Dafür hat ihr diese nicht nur das Kind organisiert, sondern sie auch als leibliche Mutter in Noemis Geburtsschein eingetragen. Woran sich jetzt merkwürdigerweise keine der beiden Nonnen erinnern kann. Glaubst du wirklich, die Schwestern wären bewaffnet, wenn sie nur ihre Keuschheit zu verteidigen hätten? Da ist was oberfaul!«
»Was willst du jetzt tun?«
Ich nahm die Hand von den Klingeln und folgte José, der ein paar Schritte die leicht ansteigende Calle de la Bola hinaufgegangen war. »Da war doch diese
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