Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
wirst.« Sie schaute von ihrer Arbeit auf. »Aber ehrlich gesagt, ist mir das auch egal. Zwischen mir und Mister Namboodiri läuft rein gar nichts. Aber ich bin seit über vierzig Jahren mit deinem Vater zusammen, weißt du. Eine arrangierte Hochzeit, wie das in Indien damals üblich war und in weiten Landesteilen immer noch ist. Es war und ist eine gute Ehe, das kann ich dir versichern, meine Eltern waren sehr vorsichtig und weise bei der Auswahl meines Bräutigams, doch natürlich war es nicht immer einfach. Das ist es nie. Als es damals hieß, ich müsste ihm in die Schweiz folgen, war ich todunglücklich. Er hatte schon einige Jahre hier gelebt und kannte ein paar Leute, doch für mich war alles neu, ich konnte ja nicht einmal die hiesige Sprache. Ich habe geweint, nächtelang, und fühlte mich einsam. Ich war abgenabelt von der Welt, die mir vertraut war, weit weg von meiner Familie, von meinen Freundinnen und vor allem meiner Schwester. Doch dein Vater und ich, wir haben uns aneinander gewöhnt, weißt du, schrittweise, er war ein fürsorglicher Ehemann. Wir haben uns ebenfalls arrangiert und, ja, ich habe irgendwann begonnen, ihn zu lieben. Ein langsam wachsendes Gefühl, das mir die Angst nahm und Sicherheit gab. Ich kann mich nicht beklagen, er hat immer gut für mich gesorgt und als du zur Welt kamst, war ich die wohl glücklichste Frau im Universum. Und dennoch: Ich war nie richtig verliebt, ich habe das nie erlebt, dieses flaue Gefühl im Magen, dieses Kribbeln, die Spannung.«
»Hattest du denn vor Pa keinen Freund in Indien?«
»Wo denkst du hin! Wir Mädchen wurden in Indien stets von den Jungs ferngehalten, sich heimlich mit einem von ihnen zu treffen, war strengstens untersagt. Eines Tages wurde uns dann mitgeteilt, wen wir heiraten mussten. Das hatte seine Richtigkeit, gleichzeitig war aber mein Leben dadurch immer so … abgekartet. Alles war vorbestimmt, es gab wenige Überraschungen, keine richtige Aufregung. Erst als ich den Laden von deinem Vater übernahm, veränderte sich meine Sicht auf die Welt. Darum hänge ich so daran – er ermöglicht mir eine gewisse Freiheit. Selbst zu entscheiden, eigene Ideen zu entwickeln. Verantwortung zu übernehmen.«
Erst jetzt bemerkte ich, dass Manju zurückgekehrt und aufmerksam lauschend im Türrahmen stehen geblieben war. Selten hatte sich meine Mutter mir gegenüber so geöffnet und ich wünschte, wir würden häufiger solche Gespräche führen.
Sie lachte leise. »Mach dir keine Sorgen, Beta. Mister Namboodiri mag mich, vielleicht ist er sogar ein bisschen verliebt in mich, es spielt keine Rolle. Er stellt keine Gefahr dar, aber ich genieße seine Anwesenheit, sein schüchternes Werben. Nach all den Jahren ist das Liebesleben mit deinem Vater auch nicht mehr gerade …«
»Ich will’s gar nicht wissen!«
»Mister Namboodiri gibt mir jedenfalls das Gefühl, begehrt zu sein. Eine Frau zu sein, nicht nur Mutter oder Gemahlin. Das finde ich aufregend, für mich ist das eine ganz neue Erfahrung.«
So hatte ich das noch nie gesehen. Meine Mutter war einfach meine Mutter gewesen und nicht einmal im Traum wäre mir eingefallen, dass sie weitergehende Bedürfnisse haben könnte, als den Laden zu führen und für ihre Familie da zu sein. Schon gar keine erotischen. Eine etwas naive Annahme natürlich, doch es gab Situationen, in denen man sich seine Mutter einfach nicht vorstellen mochte. Verdutzt konstatierte ich, wie wenig man doch als Kind von seinen Eltern wusste, selbst wenn man einen Großteil seines Lebens in nächster Nähe zu ihnen verbracht hatte. Aber wenn man es objektiv betrachtete, war es nur naheliegend, dass Sinnlichkeit und Begehren in einem bestimmten Alter nicht einfach verkümmerten, sondern weiterexistierten und schlummernd darauf warteten, von jemandem geweckt zu werden. Dass dieser Jemand bei meiner Mutter ausgerechnet der tollpatschige Mister Namboodiri war, war eine bittere Pille, aber ihr zuliebe würde ich sie widerspruchslos schlucken.
Nachdem wir die Einladung meiner Mutter, zum Essen zu bleiben, abgelehnt hatten, schlenderten Manju und ich zu meiner Wohnung an der Dienerstrasse. Wir wollten den Abend gemeinsam verbringen, wenn wir schon mal beide keine anderen Verpflichtungen hatten. Während Manju begann, Zwiebeln und Knoblauch zu schälen, führte ich ein längeres Gespräch mit Irene Winter und unterrichtete sie über den aktuellen Stand der Dinge. Sie war entsetzt, als sie vom organisierten Kinderhandel hörte, doch ich
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