Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
Ausgeglichenheit einstellte, die ich zum Einschlafen benötigte.
Montag
Das türkische Bistro-Pub Aladin an der Langstrasse wurde in keinem der schicken Stadtführer erwähnt, war nie im Cosmopolitan besprochen worden und beim virtuellen Reiseportal Tripadvisor gab es keinen einzigen Eintrag dazu. Es bestach weder durch besonders leckeren Kaffee noch eine finessenreiche Küche, und das Ambiente mit den roten Kunstlederstühlen und den abgenutzten Tischen war eher zweckmäßig denn stilvoll zu nennen.
Es gab mehrere Gründe, weshalb ich trotzdem hier saß:
Der erste war sicher die offene Fensterfront des Restaurants, die an einem warmen Sommermorgen wie heute eine unverstellte Aussicht auf das Quartier und seine Bewohner erlaubte und ein beinahe mediterranes Lebensgefühl vermittelte. Gerade weil das Aladin überhaupt nicht angesagt war, rotteten sich hier auch keine Szenemütter zusammen, die beim Versuch, sich gegenseitig zu übertrumpfen, ihre brabbelnden und garantiert überdurchschnittlich begabten Säuglinge zu künftigen Nobelpreisträgern hochschnatterten. Es fielen auch keine Scharen trendiger In-People auf der Suche nach dem Next Big Thing ein oder gelangweilte Hipster, die sich hinter den obligaten Apple -Laptops verschanzten, um wichtig in die Luft zu starren. Nach der Aufregung der letzten Tage sehnte ich mich nach etwas Ruhe und genau diese bot das schäbige Lokal bedingungslos.
Der wichtigste Grund war aber José. Um vier Uhr morgens hatte er, geradezu abartig nach Alkohol stinkend, bei mir geklingelt.
»Ich will nich drüber rrreden«, hatte er gelallt. »Aber kannich heut Nacht hier pennen?«
Wortlos hatte ich auf das Sofa gedeutet, auf das er sich sofort mit einem tiefen Seufzer fallen ließ und praktisch gleichzeitig zu schnarchen begann. Als ich aufgestanden war, hatte sich weder an Position noch Schnarchen etwas geändert, sodass ich entschieden hatte, ihn seinen Rausch ausschlafen zu lassen und meinen Morgenkaffee auswärts zu mir zu nehmen. Manju war für meine Verhältnisse schon früh aufgebrochen, um in Kumar’s Palace erste Vorbereitungen für den Mittagsservice zu treffen.
Desinteressiert blätterte ich in der Gratiszeitung herum, die aufgeschlagen auf dem Nebentisch gelegen hatte. Jemand hatte offenbar vorgehabt, das Sudoku zu lösen, war aber dabei kläglich gescheitert. Erst als ich das Blatt zuklappen und beiseitelegen wollte, stach mir das Foto auf der Titelseite ins Auge. Ohne auch nur eine Zeile des Begleittextes gelesen zu haben, wusste ich, dass mir neuer Ärger drohte. Großer Ärger.
Es war wohl klüger, Raphael Fontana in den nächsten Jahren aus dem Weg zu gehen, er musste fuchsteufelswild auf mich sein. Das gestochen scharfe Foto zeigte nämlich ihn, wie er sich in einem Hinterhof direkt von der Fingerspitze Koks die Nase hochzog. Dieses Bild hatte ich selbst geschossen. Irgendwer musste meine Kamera, die ich auf der Flucht vor Raffi hatte liegen lassen, gefunden und an sich genommen haben, denn in der Bildlegende wurde darauf hingewiesen, dass die Aufnahme am Vortag im Internet aufgetaucht sei. Wenig überrascht las ich weiter, dass Raphael Fontana für eine Stellungnahme nicht zu erreichen gewesen war.
Es kam mir äußerst gelegen, dass ich heute nach Bern fahren wollte. Aber für den sehr wahrscheinlichen Fall, dass ich Raffi wieder über den Weg laufen sollte, musste ich mir dringend eine effiziente Überlebensstrategie zurechtlegen.
Ich trank den letzten Schluck Latte macchiato und schlenderte zu meinem hellblauen VW -Käfer, den ich direkt vor meiner Wohnung geparkt hatte. Als ich den Motor anließ, sprang gleichzeitig das Radio an und aus den Boxen hämmerte ein nervtötender Beat, der von noch nervtötenderem Synthesizergequietsche begleitet wurde. will.i.am quäkte sich mit der mittlerweile vollends zum Roboter mutierten Britney Spears durch einen Song, in dem die beiden mit einem bestenfalls spartanisch zu nennenden Wortschatz eine gemeinsame Nacht im Klub besangen. Ich hielt den Song immerhin ein paar Takte lang aus, bevor ich kurz entschlossen das Handschuhfach öffnete und eine CD mit blauem Cover herauszog. Guns N’ Roses, Use Your Illusion II .
What we’ve got here is failure to communicate , stellte die desillusionierte Stimme einer Frau zu Beginn des ersten Stücks fest und irgendwie passte das ganz gut zu meinem Fall.
Ich war gerade in die Langstrasse eingebogen, als mir plötzlich Miranda einfiel. Bevor ich die Stadt verließ, wollte ich mich
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