Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
Sensationslüsternheit geradezu glühten.
»Ich meine vorerst gar nichts, ich versuche nur, Fakten zu sammeln.«
Vielleicht hatte Sánchez seinen ehemaligen Geschäftspartner ja doch gefunden, ihn ermordet und es wie einen Unfall aussehen lassen. Grund dazu hatte er jedenfalls gehabt. Aber dann musste er ein verdammt guter Schauspieler sein, denn seine Erschütterung auf meine Grüße von Grüninger hatte echt gewirkt.
»Was ist mit der Witwe?«
»Eine zierliche Frau, très sympa, finde ich persönlich, doch es gibt Stimmen, die sie als ›Goldgräberin‹ bezeichnen. Vor allem jetzt, da sie mit diesem steinreichen Russen zusammen ist.«
»Moment! Der Reihe nach, bitte.«
»Die Tschanzens waren schon ein Paar, bevor er diese Wohnung gekauft hat. Eine solide mariage, hatte ich das Gefühl, auch wenn er deutlich älter war als sie. Sie hatten einen kleinen Jungen , den Jonas, ein allerliebstes Kind. Schon damals haben sie viel Zeit im Berner Oberland verbracht, er hatte da für ein paar Millionen dieses Chalet gekauft, so eine Luxushütte in Gstaad. Nach seinem Tod hat sie alles geerbt, naturellement, und kurze Zeit später hatte sie diese liaison mit einem Russen. Sie wohnen jetzt gemeinsam dort oben und sind dem Anschein nach glücklich.«
Mir brummte der Kopf ob all der neuen Informationen, doch der Besuch bei der alten Dame schien sich auf jeden Fall zu lohnen.
»Wer sieht nach der Wohnung, wenn Frau Tschanz nicht hier ist?«
»Ich natürlich. Sie hat mir einen Schlüssel überlassen, en cas d’urgence, wenn etwas sein sollte.«
»Wäre es vielleicht möglich, sie kurz zu besichtigen?«
Die Morlot starrte mich an, als hätte ich sie gebeten, ihre Bluse aufzuknöpfen.
»Wie gesagt, suche ich diese Unterlagen für meine Klientin und es besteht Anlass zur Annahme, dass sie sich hier bei Tschanz befinden.«
Mein Beamtendeutsch zeigte nicht die geringste Wirkung.
»Hören Sie, es geht hier nicht allein um Kinderhandel«, redete ich beschwörend auf sie ein, »sondern möglicherweise sogar um Mord. Mit Ihrer Hilfe gelingt es mir vielleicht, dieses Verbrechen aufzuklären.«
Annemarie Morlots Augen begannen zu leuchten. »Vraiment?«
»Ohne Sie komme ich keinen Schritt weiter.«
Das war angesichts meiner desolaten Lage nicht einmal gelogen.
Nach kurzem Abwägen kramte sie einen Schlüssel aus der obersten Schublade der Biedermeierkommode und wies mich an, ihr zu folgen.
»Aber das bleibt entre nous, n’est-ce pas? Ich persönlich glaube ja nicht, dass Sie etwas finden.«
»Was macht Sie da so sicher?«, hakte ich nach, doch sie blieb mir die Antwort schuldig.
Das Apartment der Familie Tschanz war vom Grundriss her spiegelverkehrt, ansonsten aber identisch mit demjenigen Frau Morlots. Auch hier bestand die Einrichtung hauptsächlich aus antikem Mobiliar, doch mit viel Geschmack hatte jemand einige moderne Designklassiker ausgewählt, die einen reizvollen Kontrast zu den tendenziell schweren und dunklen Möbeln bildeten. Während ich mich in der Wohnung umsah, wurde mir erst bewusst, wie weitläufig sie war. Von außen hätte ich das nicht erwartet. Eine hohe Decke schuf Luft, die Räume waren großzügig bemessen, und selbst wenn ich manche Dinge nur flüchtig streifte, fiel mir auf, mit wie viel Liebe zum Detail die Restaurationen durchgeführt worden waren. Die Fenster der rückwärtigen Hausseite ließen viel Licht herein und boten einen grandiosen Ausblick auf das Mattequartier und die in einer weiten Schlaufe um die Altstadt fließende Aare.
Annemarie Morlot blieb während der Besichtigung die ganze Zeit über dicht an mir dran und verfolgte aufmerksam jede meiner Bewegungen. Obschon sie mehrmals zu einer Frage ansetzte, schien sie es nicht zu wagen, mich zu unterbrechen.
Der letzte Raum, den ich besichtigte, diente als Büro und war mit einem Schreibtisch, dem Bücherregal und zwei Aktenschränken eher spartanisch möbliert. An der Wand hing ein kubistisches Gemälde in grellbunten Farben und an einem der Fenster wuchs in einem kupfernen Übertopf ein Gummibaum, der bis unter die Decke reichte. Wenn sich die Unterlagen in der Wohnung befanden, dann waren sie hier, in diesem Raum. Die Akten anderswo aufzubewahren, hätte keinen großen Sinn ergeben. Doch irgendetwas ließ mich stutzig werden.
»Was ist?«, fragte Frau Morlot beunruhigt, als sie meinen schweifenden Blick bemerkte.
Ich gab keine Antwort und musterte jede Kleinigkeit eingehend. Es dauerte allerdings einen Moment, bis ich
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