Family Affairs - Verbotenes Verlangen
sich hässliche dunkle Flecken auf der Tischdecke ausbreiteten. Sie war aber zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um es zu bemerken. Chloe ihrerseits sah großzügig darüber hinweg. Es gab wirklich Wichtigeres als eine ruinierte Tischdecke. Ein ruiniertes Herz zum Beispiel.
„Bist du verliebt in Victor?“
Die Frage schien sich Paige noch gar nicht gestellt zu haben, und so sah sie mit einiger Verblüffung im Blick wieder auf.
„Verliebt?“ Ein hilfloser Ausdruck beherrschte ihre Züge. „Ich habe keine Ahnung. Um ehrlich zu sein … darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Ich bin nicht scharf auf so was. Sieh dir an, was die Liebe aus unseren Eltern gemacht hat. Und sie sind nicht das einzige Beispiel, das ich anführen könnte, das kannst du mir glauben. Nein, wirklich, darauf kann ich echt verzichten. Außerdem weiß ich nicht mal, ob ich Liebe und Begierde unterscheiden könnte.“
Chloe lächelte verträumt.
„Ist es nicht ein und dasselbe?“
„Du scheinst zu wissen, wovon du sprichst.“
Paige konnte erstaunlich feinfühlig sein, dachte Chloe unangenehm berührt.
„Kann schon sein“, meinte sie ausweichend.
„Okay, ich merk schon, du willst nicht darüber reden.“
„Es ist kompliziert.“
„Das ganze Leben ist kompliziert“, ergänzte Paige weise. „Manche halten sich für superintelligent, wenn sie alles zerreden und zu Tode diskutieren. Man denkt nach … und denkt nach, und am Ende bekommt man doch nur einen Arschtritt. Dad ist doch das beste Beispiel. Anstatt dir von Anfang an reinen Wein einzuschenken, hat er die Klappe gehalten, weil er sich in seinem Kopf die abenteuerlichsten Szenen ausgemalt hat, wie du auf ihn reagieren könntest. Wäre er einfach zu dir gegangen, hättest du ihn höchstwahrscheinlich mit offenen Armen empfangen, und dieser ganze Mist wäre gar nicht erst so eskaliert.“ Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse und grinste schwach. „Es ist doch so. Wir Menschen können zum Mond fliegen, Krankheiten heilen und skypen, was ich nebenbei bemerkt für die geilste Erfindung dieses Jahrtausends halte. Aber eines können wir nicht.“
„Und das wäre?“
Paige legte ihre Finger auf Chloes Handrücken und machte einen auf Lady Di.
„Wir haben verlernt, ehrlich zu sein, und sind zu blöde, unseren Gefühlen nachzugeben, weil wir Angst vor den Schmerzen haben, sollten wir auf die Schnauze fallen.“
Dieser Satz verursachte Chloe Gänsehaut. Sich die Arme reibend, lächelte sie Paige verhalten an.
„Wo hast du nur diese Weisheit her?“
Paige grinste verschmitzt.
„Oprah …“, meinte sie feixend und brachte Chloe damit zum Lachen.
Dann verstummte ihr Kichern, und sie wurde nachdenklich, als sie sich die Gründe für Ross Schweigen durch den Kopf gehen ließ. Sie wusste mittlerweile, dass Ross eher zufällig von ihrer Existenz erfahren hatte, während er geschäftlich in London gewesen war. Beim Querschauen durch die unzähligen Fernsehkanäle war er bei einem Interview von Leanne hängengeblieben. Ross, der Leanne aus seinen Gedanken verbannt hatte, nachdem sie ihn und die kleine Paige verlassen hatte, war aus allen Wolken gefallen, als er seine Ex plötzlich über ihre Tochter plauderte. Einem inneren Impuls folgend, hatte er Nachforschungen anstellen lassen. Ihr Geburtsjahr und die frappierende Ähnlichkeit mit seiner eigenen verstorbenen Mutter, Cassandra Turner, hatten ausgereicht, um ihn von seiner Vaterschaft zu überzeugen. Danach war er nur noch auf eines aus: Er wollte sie kennenlernen.
Doch mit seinem latenten Schweigen hatte er mehr zerstört als bewahrt. Dabei hätte er nur ein Wort sagen müssen, und sie wäre ihm freudestrahlend um den Hals gefallen. Sie musste an ihre letzte Begegnung mit Ryan denken und gestand sich ein, dass sie eigentlich kein Stück klüger gehandelt hatte als ihr Vater. Endlich war Ryan ganz offen zu ihr gewesen und hatte ihr all die Dinge gesagt, nach denen sie sich so sehnsuchtsvoll verzehrt hatte. Statt glücklich darüber zu sein, war sie vor ihm weggelaufen. Aus Angst, verletzt und irgendwann wieder verlassen zu werden. Und was hatte sie jetzt davon? Sie war unglücklich, und sie war allein.
Plötzlich wurde ihr die bodenlose Dummheit ihrer bisherigen Einstellung klar, als hätte ihr jemand einen grauen Schleier von den Augen gerissen, der ihr die Sicht getrübt hatte. Jetzt schien ihr die Sonne wieder ungehindert ins Gesicht, wärmte sie und entfachte eine winzige Flamme der Zuversicht, die sich stetig
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