Fandorin
›ich kenne dich seit langem und weiß deine Gewissenhaftigkeit zu schätzen, aber der Fall ist eine Nummer zu groß für dich. Aus Petersburg kommt ein Sonderermittler, zur besonderen Verfügung des Gendarmeriechefs und Vorstehers der Dritten Abteilung, Seiner Exzellenz Generaladjutant Lawrenti Arkadjewitsch Misinow. Was das für ein Vögelchen ist, kannst du dir denken! Einer vom neuen Schlag, Intellektueller, Mann der Zukunft. Geht streng nach der Wissenschaft vor. Ein Meister in kniffligen Fällen, will uns beiden was vormachen.‹« Xaveri Gruschin grunzte böse. »Ein Mann der Zukunft also, während Gruschin nun mal ein Mann der Vergangenheit ist. So sieht’s aus. Vor drei Tagen ist er eingetroffen in aller Frühe, das war wohl der Mittwoch, der Zweiundzwanzigste. Iwan Franzewitsch Brilling heißt er, seines Zeichens Staatsrat. Und das mit dreißig Jahren! Seither geht’s rund bei uns. Heute haben wir Sonnabend, und trotzdem bin ich seit neun im Dienst. Und gestern haben wir bis elf in der Nacht gesessen und sogenannte Schemata gekritzelt. Das Zimmer, wo wir immer unseren Tee getrunken haben, wissen Sie noch? Anstelle des Samowars steht da jetzt ein Telegrafenapparat, und ein Telegrafist sitzt davor und schiebt rund um die Uhr Dienst. Da kann man eine Depesche bis nach Wladiwostok schicken oder meinetwegen nach Berlin, Antwort sofort. Die bestallten Agenten hat er zur Hälfte davongejagt, hat seine Leute aus Petersburg mitgebracht, die hören nur auf ihn. Mich hat er hochnotpeinlich ausgefragt und die Ohren dabei gespitzt. Erst dachte ich, er schickt mich in den Ruhestand, aber nein, Kriminalvorsteher Gruschin darf sich einstweilen noch nützlich machen. Ach,übrigens bin ich ja … bin ich ja an sich auch gekommen, mein Lieber, weil nämlich …«, Gruschin fing an zu drucksen, »ja, weil ich Sie vorwarnen wollte. Er hat nämlich die Absicht, heute noch hier aufzutauchen, zur persönlichen Befragung. Da braucht Ihnen aber nicht bange zu sein, man wirft Ihnen nichts vor. Sie haben ja sogar in Erfüllung Ihrer Pflichten eine Verwundung davongetragen. Nur, seien Sie so lieb, hauen Sie den Alten nicht in die Pfanne. Wer konnte denn ahnen, daß die Sache so ausgehen würde …«
Fandorin maß seine ärmliche Behausung mit einem traurigen Blick. Einen schönen Eindruck würde diese Petersburger Persönlichkeit von ihm bekommen!
»Vielleicht sollte ich selber zu ihm ins Amt fahren? Mir geht es schon ganz fabelhaft, ehrlich!«
»Unterstehen Sie sich!« Der Kriminalamtsvorsteher wedelte abwehrend mit den Händen. »Soll denn der Chef gleich wissen, daß ich hier war, Sie zu alarmieren? Schön liegenbleiben. Er hat Ihre Adresse notiert, bestimmt taucht er heute noch hier auf.«
Der »Mann der Zukunft« kam am Abend, zwischen sechs und sieben, so daß Fandorin Zeit gehabt hatte, sich gründlich vorzubereiten. Zur Wirtin, Agrafena Kondratjewna, hatte er gesagt, ein General rücke an, Malaschka solle also den Fußboden im Flur wischen, die morsche Truhe entfernen und sich vor allem unterstehen, Kohlsuppe zu kochen. Seinem eigenen Zimmer verlieh der Rekonvaleszent einigen Aufputz: Die Kleider an den Nägeln wurden vorteilhafter drapiert, die Bücher kamen unters Bett, einzig ein französischer Roman sowie David Humes »Untersuchung über den menschlichen Verstand« im Original und die »Aufzeichnungen eines Pariser Ermittlers« von Jean Debray bliebenauf dem Tisch liegen, später tauschte Fandorin noch den Debray gegen eine »Anleitung zum richtigen Atmen durch den echten indischen Brahmanen Herrn Chandra Johnson« aus, nach dessen Maßgaben er allmorgendlich eine den Geist stärkende Gymnastik betrieb. Sollte der Meisterdetektiv sehen, daß hier einer wohnte, der zwar arm, aber nicht liederlich war. Um die Schwere seiner Verletzung hervorzuheben, entlieh er sich aus Agrafena Kondratjewnas Vorräten ein Fläschchen mit irgendeiner Mixtur, das er neben dem Diwan auf den Stuhl stellte, wickelte sich einen weißen Schal um den Kopf und streckte sich so auf seinem Krankenlager aus. Leidgeprüft und tapfer wollte er wirken – dafür schien nun alles im Lot zu sein.
Endlich, als er des Herumliegens schon müde war, klopfte es kurz an die Tür, und herein kam, ohne eine Antwort abzuwarten, ein energischer Herr in leichtem Jackett, hellen Hosen, ohne Kopfbedeckung. Die akkurat gescheitelten rotblonden Haare ließen eine hohe Stirn frei, zwei Lachfältchen saßen in den Winkeln eines Mundes, der von Willensstärke
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