Fandorin
Portefeuille. Frauen benötigen, wie man weiß, einige Zeit für ihre Abendtoilette. Fandorin stieß einen Fensterflügel auf, stützte ein Knie auf die Fensterbank und stand im nächsten Moment im Zimmer. Den Blick immer wieder auf die Badtür gerichtet, wo das Wasser unverändert gleichmäßig rauschte, begann er das Portefeuille auszuweiden.
Ein dickes Bündel Briefe befand sich darin, außerdem der gelbe Umschlag. Auf ihm stand eine Adresse:
M. Nickolas M. Croog, Poste restante, l’ Hôtel des postes, S.-Pétersbourg, Russie
Das war schon einmal nicht schlecht. In dem Umschlag steckten mehrere Blätter mit Tabellen, die auf englisch ausgefüllt waren, die fliehenden Buchstaben kannte Fandorin gut. In der ersten Spalte standen irgendwelche Nummern, in der zweiten die Namen diverser Länder, in der dritten Amtsbezeichnungen oder Ränge, Spalte vier enthielt Datumsangaben, nicht anders Spalte fünf: Junitage in aufsteigender Folge. Die drei letzten Eintragungen – an der frischen Tinte sah man, daß es die eben vorgenommenen waren – lasen sich so:
Nº 1053F
Brasilien
Chef der kaiserlichen Leibwache
abgesandt
30. Mai
eingegangen
28. Juni 1876
Nº 852F
Vereinigte Staaten von Nordamerika
Stellvertretender Senatsausschuß-
vorsitzender
abgesandt
10. Juni
eingegangen
28. Juni 1876
Nº 354F
Deutschland
Amtsgerichts-
präsident
abgesandt
25. Juni
eingegangen
28. Juni 1876
Aha! Die heute im Hotel für Miss Olsen eingegangenen Briefe stammten aus Rio de Janeiro, Washington und Stuttgart. Fandorin wühlte in dem Briefbündel und suchte den brasilianischen heraus. Er enthielt einen Briefbogen ohne Anrede und Unterschrift, mit einer einzigen Zeile:
30. Mai, Chef der kaiserlichen Leibwache, Nº 1053F.
Die Beshezkaja übertrug also den Inhalt der Briefe, die sie erhielt, in Tabellen, die sie dann einem Monsieur oder eher Mister Nickolas Croog in Petersburg sandte. Zu welchem Zweck? Wieso Petersburg? Was hatte das alles zu bedeuten?
Die Fragen überstürzten sich, eine drängte sich vor die andere, nach Antworten zu sinnen blieb jedoch keine Zeit – im Bad hatte das Wasser zu rauschen aufgehört. Fandorin stopfte Briefe und Blätter hastig zurück in ihr Behältnis. Den Rückweg zum Fenster anzutreten schaffte er nicht mehr. Eine schmale weiße Gestalt erschien im Türrahmen und erstarrte.
Fandorin zog den Revolver aus dem Gürtel und befahl mit halb pfeifender, halb zischender Stimme: »Frau Beshezkaja – ein Ton, und ich schieße! Gehen Sie zum Tisch und setzen Sie sich! Schnell!«
Schweigend kam sie näher, fixierte ihn wie gebannt mit ihren funkelnden, bodenlosen Augen, setzte sich vor den Schreibtisch.
»Das haben Sie wohl nicht erwartet?« erkundigte sich Fandorin höhnisch. »Sie hielten mich für einen Dummkopf, nicht wahr?«
Amalia Beshezkaja schwieg, ihr Blick war aufmerksam und ein wenig erstaunt, so als sähe sie Fandorin zum ersten Mal.
»Was bedeuten diese Listen?« fragte er und fuchtelte mit dem Colt. »Was spielt Brasilien für eine Rolle? Wer verbirgt sich hinter den Nummern? Los, antworten Sie!«
»Sie haben sich rausgemacht«, gab die Beshezkaja mit unerwartet leiser, nachdenklicher Stimme von sich. »Ein richtiger Mann.«
Sie ließ den Arm sinken, und das Nachtgewand glitt ihr von der runden Schulter, die so weiß war, daß Fandorin schlucken mußte.
»Ein verwegener, streitsüchtiger Dummkopf«, sagte sie, immer noch so leise, und schaute ihm in die Augen. »Und sehr, sehr schön.«
»Wenn Sie glauben, Sie könnten mich in Versuchung führen,dann vertun Sie Ihre Zeit«, stieß er errötend hervor. »Ich bin nicht der Depp, für den Sie mich halten.«
»Sie sind ein armer Junge, der nicht einmal ahnt, worauf er sich eingelassen hat«, entgegnete Amalia kummervoll. »Ein armer, hübscher Junge. Und ich werde Sie nun nicht mehr retten können.«
»Denken Sie gefälligst an Ihre eigene Rettung!« Fandorin mühte sich, die verfluchte Schulter zu übersehen, die sich unterdessen noch mehr entblößt hatte. Konnte es eine so strahlend weiße Haut geben, so weiß wie Milch und Schnee?
Die Beshezkaja war aufgesprungen, Fandorin prallte zurück und hielt den Colt vor sich.
»Sitzenbleiben!«
»Keine Angst, mein Dummerchen. Diese hübschen roten Wangen! Darf man die anfassen?«
Sie streckte die Hand aus und berührte ihn mit den Fingern leicht im Gesicht.
»Ganz heiß! … Was soll ich nur mit Ihnen machen?«
Ihre andere Hand legte sich auf seine Finger, die krampfhaft den
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