Fangschuss
Umfeld, selbst mir. Er würde sich andauernd selbst belügen und seine eigenen Bedürfnisse nicht ernst nehmen. Er könnte so nicht leben. Nicht in einem goldenen Käfig. Er hörte gar nicht mehr auf. Auch das Haus passte ihm plötzlich nicht mehr, unser Lebensstil. Bonzenhaft, nannte er uns, er suche das Einfache, Unverstellte, das Ehrliche, nichts weniger als die Wahrheit. Er wolle nicht so enden wie wir.«
»Spätpubertärer Anfall?«
»Kann man so sehen, geschmerzt hat es mich trotzdem. Sehr sogar.« Ihre Lippen zitterten. Mit der Hand wischte sie entschlossen über ihr Gesicht, dann standen die Lippen wieder still. Die Frau hatte eine bewundernswerte Selbstbeherrschung. Oder eine beängstigende.
»Das Letzte, was wir von ihm hörten, war, dass er irgendwo im Kreis 4 wohnt.«
Ich nickte und dachte bei mir, dass der Junge eine merkwürdige Vorstellung von Einfachheit und Wahrheit hatte. Ich jedenfalls wäre bei diesen Begriffen nicht gleich auf Kokainhandel und eine Teilzeitpunkerin gekommen.
»Hatte Philipp jemals etwas mit Drogen zu tun?«
Sie schüttelte vehement den Kopf, doch das leichte Zögern davor war mir nicht entgangen. Irgendwie konnte ich sie mir plötzlich ganz gut als Mutter vorstellen. Eine strenge zweifelsohne, aber eine, die alles für ihren Sohn tun würde. Selbst lügen.
»Finden Sie ihn.« Ihre Augen glänzten plötzlich feucht, ihr Blick wurde weich. »Bitte.«
Ich versprach es, dabei fiel mir auf, dass ich in den letzten Tagen schon so einiges versprochen hatte. Ich würde mich ziemlich anstrengen müssen, damit ich auch alles halten konnte.
»Noch etwas.« Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, das Haus eingehender zu besichtigen, jetzt, da ich schon mal hier war. Vielleicht fand sich ein Hinweis, wo Stadelmann seine Wochenenden verbrachte und mit wem, was er mit Winkler zu tun hatte und welche Rolle sein Sohn dabei spielte. »Ich würde mich hier gern ein wenig umsehen.«
Frau von Salis-Stadelmann zögerte, dann malte sie mit ihrer Hand einen Bogen in die Luft, womit sie mir wohl ihr Einverständnis gab. Irgendwie erinnerte sie mich an eine Königin, die soeben einen Untertan begnadigt hatte.
»Ich möchte, dass Sie mitkommen.«
Diesmal zögerte sie nicht und erhob sich unverzüglich. »Ich denke, wir fangen am besten im Keller an.«
»Und das ist das Schlafzimmer.«
Wir blieben stehen, beide schwer atmend. Die Villa war noch weitläufiger, als sie von außen ahnen ließ. Gefunden hatte ich dabei jedoch nichts, was mir hätte weiterhelfen können. Weder im Keller mit Billardraum noch im hauseigenen Schwimmbad, nicht in der Sauna oder den vier Gästezimmern, den drei Badezimmern oder dem Wintergarten.
Frau von Salis-Stadelmann lächelte. »Vielleicht sollte ich das jeden Tag zwei Mal machen. Ich könnte glatt auf meinen Personal Trainer verzichten.«
Ich grinste pflichtbewusst über ihren kleinen Scherz und äugte dabei unverhohlen in den Raum hinein.
»Hier werden Sie nichts finden, das Sie etwas angeht.« Energisch zog sie die Tür vor meiner Nase zu und zwinkerte verschmitzt. »Aber ich zeige Ihnen jetzt noch das Arbeitszimmer meines Mannes.«
Ich folgte ihr eine steile Treppe hinauf, die direkt ins Dachgeschoss führte.
»Vor ein paar Jahren haben wir den Dachboden ausgebaut. Wir dachten, dass Philipp es vielleicht vorziehen würde, da oben zu wohnen. Doch er wollte lieber sein altes Zimmer behalten. Also hat sich mein Mann hier oben ein Arbeitszimmer eingerichtet. Wobei er eigentlich kaum von zu Hause aus arbeitet.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber Männer scheinen ab und zu ein Refugium zu brauchen.«
Damit öffnete sie die Tür und mir blieb die spitzzüngige Entgegnung im Hals stecken.
Der Raum war riesig, man hätte darin locker eine vielköpfige Flüchtlingsfamilie samt Großmutter und einem Dutzend Ziegen unterbringen können. Unter der Dachschräge stand ein gedrechselter Schreibtisch, darauf ein Computer und ein Telefon, in einer Ecke befand sich ein braunes Ledersofa und direkt gegenüber ein doppeltüriger Schrank. Durch die Dachfenster drang milchiges Licht, der Regen war als sanftes, konstantes Pochen zu vernehmen, das mich sofort schläfrig machte. Doch der Anblick der Tiere hielt mich wach. Es war unheimlich. Sie waren überall. Auf dem Boden, auf dem Schreibtisch, sie äugten mit ihren toten Knopfaugen vom Schrank herunter. Marder, Füchse, ein Dachs und ein Rehkitz, an der Wand der mächtige Kopf eines Steinbocks, ein Adler mit ausgebreiteten
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