Fantasien der Nacht
außerstande, sich der Wirklichkeit zu stellen. Sie murmelte mit sanfter Stimme beruhigende Worte, ohne sich darüber im Klaren zu sein, was sie eigentlich sagte. Langsam, aber stetig entglitt ihr die Kontrolle über ihren Verstand.
Curtis’ Hände packten sie hart an den Schultern und schüttelten sie. Er sprach in harschem, abgehacktem Ton mit ihr, doch sie weigerte sich, zu hören, was es war, oder es auch nur zur Kenntnis zu nehmen. „Ruf den Notarzt“, bat sie ihn mit der lallenden Stimme einer Betrunkenen. „Er ist verletzt, er braucht Hilfe. Ruf schnell den Notarzt.“
„Er ist tot, Tamara.“ Er ließ von ihr ab und versuchte stattdessen, Daniels Kopf aus ihren Armen zu lösen. Sie hielt ihn noch fester und schloss die Augen, als sich ihr Blickfeld wieder klärte – sie wollte es nicht sehen. „Er ist tot“, wiederholte Curtis laut.
Sie hielt ihre Augen geschlossen und schüttelte den Kopf. „Er ist bloß verletzt. Er braucht …“
Curtis’ Hände legten sich um ihr Gesicht und neigten es nach unten. „Sieh ihn dir an. Verflucht, mach deine Augen auf!“
Der zunehmende Druck ließ sie nachgeben, und ihr Blick fiel auf tote graue Haut, zusammengekniffene, bereits getrübte Augen und die gezackte Wunde in Daniels Halsschlagader. Sie schüttelte stumm den Kopf und versuchte, dies alles aus ihren Gedanken zu verbannen.
Langsam erschlaffte ihr Körper, und Curtis zog sie in dem Moment auf die Füße, als sich ihr Griff um Daniel lockerte. Sie rutschte aus und wäre beinahe gestürzt. Als sie hinabschaute, stellte sie fest, dass der Boden feucht von Blut war. Ihre Kleidung war davon durchnässt, ebenso wie Daniels Leichnam. Der Wahnsinn kroch näher, packte mit seinen knorrigen Klauen ihren Geist und drückte zu.
„Ich sagte dir, dass das dabei herauskommen würde.“
Sie blinzelte und schaute ihn an.
„Du hast es selbst gesehen, Tam. Es war Marquand. Als ich Daniel schreien hörte, habe ich die Tür eingetreten und konnte kaum glauben, was ich sah. Marquand war … er hat ihm das Blut ausgesaugt. Ich habe mich auf ihn gestürzt, aber er hatte bereits die Schlagader durchtrennt – hat sie einfach aufgerissen. Daniel ist verblutet, während ich mit Marquand kämpfte.“
Mit leerem Blick schaute sie erneut zum Fenster hinüber und erinnerte sich des kurzen Anblicks von Eric … an das Blut auf seinem Gesicht. Nein. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Im Geiste rief sie nach ihm, schloss die Augen und flehte darum, er möge ihr die Wahrheit sagen und Curtis’ Worte Lügen strafen. Gleichwohl, er antwortete nicht. Sein Schweigen ließ sie die Beherrschung verlieren, und während sie sich sonderbar losgelöst von sich selbst fühlte, verfolgte sie, wie eine blutüberströmte Frau, die aussah wie sie, dem Irrsinn anheimfiel.
Sie riss an ihrer Kleidung, kratzte mit blutigen Nägeln über ihr Gesicht, riss an ihren Haaren und schrie wie am Spieß. Curtis musste die Frau zweimal ohrfeigen, bevor sie, einem zitternden, schluchzenden Häufchen Elend gleich, auf dem Boden zusammensank.
Er verließ den Raum, nur um einen Moment später zurückzukehren und ihr irgendetwas zu injizieren. Die Umrisse des Raums verschwammen, und Stimmen hallten endlos nach. Sie musste die Augen schließen, weil sie wusste, dass sie sich andernfalls übergeben würde.
Als sie sie wieder öffnete, fiel der unverkennbare Schein der Frühmorgensonne durch ihr Fenster und auf ihr Bett. Ihr Kopf schmerzte, aber sie war sauber und trug ein weiches weißes Nachthemd. Ihr Gesicht tat weh, und ein Blick in den Spiegel offenbarte ihr einen weiteren dunkelblauen Fleck, abgesehen von dem, der sich bereits auf ihrem Kinn befand; dieser reichte hoch bis zu ihrem Wangenknochen.
Sie schüttelte den Kopf, ließ den Handspiegel auf den Nachttisch fallen und schlüpfte aus dem Bett. Der blaue Fleck rührte von Curtis’ Fingerknöcheln her, die brutal in ihrem Gesicht gelandet waren, als sie letzte Nacht außer sich geraten war. Gleichwohl, nichts davon war tatsächlich passiert, oder? Es war nicht wirklich geschehen …
Leise trat sie durch die Tür hinaus, huschte über den abgetretenen Teppich im Flur und dann die Treppe hinab. Die ganze Zeit über redete sie sich ein, dass alles bloß ein Albtraum gewesen war oder eine Wahnvorstellung. Sie hielt vor den großen Doppeltüren von Daniels Bibliothek inne und zögerte nur einen Moment, bevor sie die Türflügel aufstieß.
Ihr Blick glitt geradewegs zu dem Teppich in der Mitte
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