Fantasien der Nacht
abgesucht, den er aller Wahrscheinlichkeit nach genommen hatte, und nichts gefunden. Kathy hatte dasselbe getan, und doch war Tamara überzeugt davon, dass sie auf etwas stoßen würde, das sie übersehen hatten … Sie irrte sich nicht.
Als sie den Bürgersteig hinter dem Drugstore entlangzugehen begann, weckte etwas ihre Aufmerksamkeit. Sie hielt inne, hob den Kopf hoch und wartete. Ihr Blick schweifte wie von selbst zu dem Platz hinter dem Geschäft hinüber, eine mit Unkraut und Abfällen übersäte Fläche, dessen Überquerung alle Eltern ihrem Kind verbieten würden, so wie Kathy es höchstwahrscheinlich Jamey verboten hatte.
Gleichwohl entdeckte sie einen gewundenen Pfad, der sich zwischen schneebedecktem braunen Unkraut, zerbrochenen Flaschen und Müll dahinzog. Sie nahm die Taschenlampe aus ihrer Tasche, die sie sich von Kathy ausgeliehen hatte, und überprüfte die handgezeichnete Karte.
Den Platz zu überqueren würde seinen Heimweg um einige Minuten verkürzen. Sie faltete die Karte zusammen, steckte sie ein, richtete den Lampenstrahl auf den Boden und folgte dem beinahe unsichtbaren Pfad. Hier lag nur wenig Schnee, und den wenigen, den es gab, verwehte der Wind, der über die freie Fläche strich, fortwährend von Neuem.
Papierfetzen und Abfall wirbelten über den Pfad, als sie dem Strahl der Taschenlampe folgte. Zerknüllte Zeitungsseiten jagten dahin, und ein einzelner Notizzettel trieb an ihr vorüber. Sie suchte nach Fußspuren, sah jedoch keine und kam zu dem Schluss, dass sie ohnehin längst vom Wind weggeweht worden wären, hätte es welche gegeben. Pastellfarbenes Toilettenpapier tanzte an ihr vorbei und dann ein weißes Etwas, das wie Stoff aussah. Sie runzelte die Stirn und folgte dem Weg des Fetzens mit dem Strahl der Lampe. Es war kein Stoff, sondern Mull. Ein zerknülltes Stück Mull.
Die Brise wurde stärker, und der Fetzen flog davon. Sie jagte ihm einige Meter hinterher, verlor ihn aus den Augen und fand ihn schließlich wieder. Sie hob ihn mit spitzen Fingern auf, sorgsam darauf bedacht, lediglich eine Ecke des Gewebes zu berühren. Sie hielt den Mull in den Lichtschein; man hatte damit keine Verletzung behandelt. Nirgends zeigte sich ein Hinweis auf Blut. Langsam wie ein sich anschleichendes Phantom bahnte sich der Geruch seinen Weg in ihre Sinne. Sie rümpfte die Nase. War das …?
„Chloroform“, flüsterte sie entsetzt.
Eric stieg die Vorderstufen zu St. Claires Haus empor und drückte auf die Klingel, um seine Ankunft anzukündigen. Während er wartete, trat er von einem Fuß auf den anderen und runzelte die Stirn, als niemand an die Tür kam, um zu öffnen. Mehrfach hatte er sich gesagt, dass er mit allem fertig werden würde, ganz gleich, was für Überraschungen St. Claire für ihn bereithalten mochte. Und doch schwirrte sein Kopf vor Warnungen. Er drückte noch einmal auf den Klingelknopf.
„Ich sage dir, irgendwas stimmt hier nicht!“ Roland trat aus seinem Versteck zwischen den Sträuchern und blieb neben Eric vor der Tür stehen.
„Und ich habe dir gesagt, du sollst außer Sicht bleiben. Wenn er dich entdeckt, wird er überzeugt sein, dass wir gekommen sind, um ihn umzubringen.“
„Mein scharfsinniger Freund, ist dir nicht aufgefallen, dass niemand die Tür öffnet?“
Eric nickte. „Geduld, Roland. Ich rufe Tamara.“ Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als er seine Sinne auf sie ausrichtete; gleichwohl, er spürte keinen Hinweis darauf, dass sie sich in dem Haus aufhielt. Dann änderte der Wind seine Richtung, und beide bemerkten sie den schweren, unverwechselbaren Geruch von Blut, der zu ihnen drang. Eric warf Roland einen überraschten Blick zu; dann liefen die beiden Männer um das Haus herum zur Quelle des Geruchs.
Hinter dem Haus hielten sie inne, in der Nähe eines offenen Fensters mit nach innen wehendem Vorhang. Ohne zu zögern, sprang Eric auf das Fensterbrett und dann durch die Fensteröffnung, um drinnen leichtfüßig auf dem Boden zu landen. Der Geruch war jetzt allumfassend, und als er sich in dem Raum umschaute, musste er sein aufkommendes Entsetzen unterdrücken.
St. Claire lag hingestreckt auf dem Boden in einer riesigen Lache seines eigenen Bluts, das noch immer aus einem gezackten Riss in seiner Kehle floss; gleichwohl hatte es den Anschein, als wäre kaum noch etwas übrig, das fließen konnte.
„Schön, dass du dich entschieden hast, meiner kleinen Feier beizuwohnen, Marquand. Du bist spät dran. Wie du siehst, wurden die
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