Fantasien der Nacht
tun, was in ihrer Macht stand, um Jamey Bryant aufzuspüren. Und heute Abend ginge sie zu Eric, um sich anzuhören, was immer er zu sagen hatte. Sie war nicht bereit, zu glauben, dass er Daniel auf dem Gewissen hatte, bevor sie es aus seinem eigenen Mund gehört hatte.
Weder konnte sie es glauben … noch verleugnen, was sie mit eigenen Augen gesehen hatte. Aus diesem Grund würde sie fürs Erste keiner dieser beiden Möglichkeiten Glauben schenken. Fürs Erste würde sie sich einfach nur auf Jamey konzentrieren und hoffentlich lange genug bei Sinnen bleiben, bis sie sich auf all das einen Reim machen konnte.
Curtis trat hinter sie, als sie auf die Treppe zuging. „Also, wenn irgendjemand fragt, es war ein Herzinfarkt. Vergiss es nicht. Die Einzigen, die die Wahrheit kennen, sind Hilary Garner – sie kam letzte Nacht vorbei und half mir, dich ins Bett zu bringen – und Daniels direkter Vorgesetzter, Milt Kromwell. Und natürlich Dr. Sversky. Bist du sicher, dass es dir gut geht?“
Sie nickte; sie wollte nichts lieber, als sich Hals über Kopf in eine Aufgabe zu stürzen, die ihre gesamte Aufmerksamkeit forderte. Bevor Curtis’ Wagen die Auffahrt verließ, war sie bereits oben in ihrem Zimmer und kleidete sich an. Beim Anziehen überprüfte sie ihre Jackentaschen und nickte, als sie feststellte, dass das Stück Mull noch da war.
Jamey wusste, dass es Morgen war, da er spürte, wie das Sonnenlicht seinen verspannten Körper wärmte. Gott sei gedankt für die Erfindung des Schlafsacks; wäre der nicht gewesen, wäre er mit Sicherheit erfroren. Der Widerling war mitten in der Nacht mit dem Schlafsack aufgetaucht und hatte ihn über den Jungen gebreitet. Er hatte ihm auch ein Schinkensandwich, eine Tasse Hühnersuppe und heiße Schokolade gebracht. Er band Jameys Hände los, damit er essen konnte; die Augenbinde jedoch blieb, wo sie war.
Das Klebeband wurde so gewaltsam fortgerissen, dass Jamey das Gefühl hatte, seine Lippen würden noch immer daran haften. Man hatte ihm etwas Kaltes, Röhrenförmiges gegen die Schläfe gepresst, und eine schroffe, offenkundig verstellte Stimme hatte dicht neben seinem Ohr geknurrt: „Ein Mucks, und ich blase dir den Kopf weg. Kapiert, Jungchen?“
Jamey nickte hastig. Er war vollkommen sicher, dass Curtis Rogers dazu imstande war. Jeder Mann, der eine Frau so schlug, wie Curtis Tamara geschlagen hatte, würde nicht einmal mit der Wimper zucken, wenn es galt, ein Kind wegzupusten. Und jetzt wusste er, dass es Curtis war.
Er hatte ihn zwar nicht gesehen oder ihn ohne verstellte Stimme sprechen gehört, aber er wusste es dennoch. Also nickte er wie eine brave kleine Geisel und löffelte blind seine Suppe auf. Man hatte ihm gestattet, sich in einen Eimer zu erleichtern, bevor man ihm die Arme wie zuvor hinter dem Rücken fesselte und ihm den Mund von Neuem mit Klebeband verschloss.
Verflucht, er hasste das Klebeband. Irgendwann im Laufe der langen kalten Nacht, nachdem Curtis gegangen war, begann Jameys Nase zu verstopfen. Panik befiel ihn. Wie sollte er atmen, wenn seine Nase dicht war und er Klebeband über dem Mund hatte? Eines war gewiss: Jamey hatte nicht die Absicht, noch eine weitere Nacht hier zu verbringen, um das herauszufinden. Curtis hatte gesagt, dass er am Morgen wiederkommen würde, also würde Jamey warten. Er hatte einen Plan. Es war vielleicht kein großartiger Plan, aber immer noch besser als nichts, fand er.
Er musste nicht lange warten. Kurz nach Sonnenaufgang tauchte Curtis mit einer weiteren Tasse heißer Schokolade und einem Käseteilchen aus einem Imbiss auf. Diesmal sprach er nicht viel, und Jamey wagte nicht, ihm Fragen zu stellen. Er aß, machte sein Geschäft und saß ruhig da, während er wieder gefesselt und geknebelt wurde.
Als Curtis jedoch dieses Mal ging, waren Jameys Sinne scharf wie Rasierklingen. Er lauschte aufmerksam und verinnerlichte die Geräusche von Curtis’ Schritten auf dem Fußboden, als er sich entfernte. Dann wartete er, bloß um sicher zu sein, dass Curtis nicht noch einmal zurückkam. Schließlich rutschte er über den Boden in die Richtung, in die Curtis gegangen war. Er robbte und glitt auf seinem Hintern über den Boden. Seine Füße wiesen ihm den Weg. Mit angewinkelten Knien zog er sich vorwärts, indem er sich mit den Fersen abstieß. Er kam gut voran, bis er mit einem Mal auf eine Mauer traf.
Einen Moment lang saß er verwirrt da. Dann erkannte er, dass dies der Eingang sein musste. Keine Tür, da er nicht gehört
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