Fantasien der Nacht
hatte, wie eine geöffnet oder geschlossen worden wäre. Aber es musste einen Durchgang geben. Er drehte und wand sich, bis sein Rücken zur Wand wies, sodass er seine Hände an der Wand entlanggleiten lassen konnte, während er sich zur Seite bewegte.
Als seine Finger schließlich von der glatten Wand abrutschten und ins Leere glitten, nahm er an, dass seine Hosen mittlerweile bis auf die Dicke von Toilettenpapier durchgescheuert waren und schätzungsweise eine Million Splitter in seinem Hintern steckten.
Der Eingang! Er hatte ihn gefunden!
Er war so aufgeregt, dass er sich nicht einmal damit aufhielt, sich noch einmal umzudrehen. Er stieß sich mit den Füßen ab, bewegte sich rückwärts durch die Öffnung … und trat ins Leere.
Kein Durchgang, du Idiot, sondern eine Treppe! Oh, verdammt, eine Treppe …
Rose Sversky war eine zierliche kleine Person mit kurz geschorenem weißen Haar und einer Brille mit Gläsern, dick wie die Böden einer Colaflasche. Sie erweckte eher den Eindruck, als würde sie zu Hause Kekse ausstechen als Leichen aufschneiden. Tamara saß inmitten des wohlorganisierten Durcheinanders aus Chrom, Stahl und mit Laken abgedeckten Tischen auf einem harten Stuhl und war sich schmerzhaft bewusst, dass nur wenige Stunden zuvor Daniel auf einem dieser Tische gelegen hatte. Möglicherweise sogar nur Minuten zuvor.
Dr. Sversky reichte Tamara über den Schreibtisch hinweg das Stück Mull, das jetzt sicher in einer verschließbaren Plastiktüte verpackt war. „Sie hatten recht, was das Chloroform betrifft. Unglücklicherweise ist es so gut wie unmöglich, von Mull Fingerabdrücke zu nehmen. Ich konnte leider keinen Hinweis darauf finden, wer ihn entführt hat.“
Tamara seufzte schwer und fluchte; indes, Rose hatte noch nicht geendet. „Ich habe einen winzigen Blutfleck entdeckt. Höchstwahrscheinlich handelt es sich um das Blut des Jungen, aber das kann ich erst mit absoluter Sicherheit sagen, wenn ich eine Vergleichsprobe habe. Kennen Sie seine Blutgruppe?“
Tamara runzelte die Stirn. „Nein. Vermutlich steht sie in seiner Akte, aber es wird am einfachsten sein, seine Mutter zu fragen. Ich melde mich dann bei Ihnen. Allerdings kommt mir das Ganze ein wenig seltsam vor, ich habe nämlich kein Blut gesehen.“
„Ohne Mikroskop ist das auch nur schwerlich möglich. Es ist nur eine Winzigkeit. Vermutlich hat er sich auf die Zunge gebissen, als er gepackt wurde.“ Einen Moment lang saß sie reglos hinter ihrem riesigen Schreibtisch; dann langte sie darüber, um ihre Hand auf Tamaras zu legen. „Es tut mir leid, dass Sie so viel auf einmal durchmachen müssen, Liebes. Daniel war ein guter Mann. Ich werde ihn vermissen.“
Tamara blinzelte. Sie hatte nicht beabsichtigt, jetzt an Daniel zu denken … nicht hier. Dennoch konnte sie nicht umhin, dass ihr Blick zum nächststehenden Tisch hinüberschweifte. „Sie stellen den Totenschein aus, nicht wahr?“
„Ja. Ich habe schon früher Totenscheine in unserem Sinne geschönt, und solange ich beim DPI beschäftigt bin, werde ich das wohl auch weiterhin tun, vermute ich.“
„Und es macht Ihnen nichts aus, als Todesursache statt eines Gewaltverbrechens, so wie in diesem Fall, einen simplen Herzinfarkt anzugeben?“
Rose runzelte die Stirn. „Solange nicht irgendjemand etwas anderes behauptet, gilt diese Angelegenheit als Unfall.“ Tamara blickte auf, und Rose fuhr hastig fort: „Es ist stets am besten, so nah wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben. Als ich die Beule auf seinem Hinterkopf entdeckt habe, fand ich, dass wir uns als Todesursache genauso gut darauf berufen könnten.“
Tamara starrte sie an. „Ich wusste nichts von einer Beule am Kopf.“
Dr. Sversky setzte ihre Brille ab und kniff sich in den Nasenrücken. „Ich hoffe, dieses Wissen macht es Ihnen leichter, damit umzugehen. Bevor man ihm die Halsschlagader aufriss, wurde er so hart von einem stumpfen Gegenstand getroffen, dass er das Bewusstsein verlor. Wahrscheinlich hat er es nicht einmal gespürt.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe bislang noch nie das Opfer eines … eines Vampirangriffs obduziert. So habe ich es mir jedenfalls nicht vorgestellt. In den Filmen findet man bei den Opfern immer zwei ordentliche kleine Einstiche. Dies hier war …“ Sie brach ab und schüttelte den Kopf. „Aber das müssen Sie sich wirklich nicht anhören.“
Nein, dachte Tamara. Das musste sie sich tatsächlich nicht anhören, weil sie es schon mit eigenen Augen gesehen hatte.
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