Fantasien der Nacht
Sie erhob sich, bedankte sich bei Rose Sversky und ging. Als sie mit dem Fahrstuhl nach oben fuhr, berührten ihre Finger die winzigen Male an ihrem Hals. Sie waren kaum noch zu sehen. Sie runzelte die Stirn, als sich die Türen im Erdgeschoss öffneten, und marschierte wie in Trance zum Cadillac hinaus.
Sie hatte den Großteil des Tages damit verbracht, diejenigen zu befragen, die entlang Jameys Heimweg von der Schule wohnten, und noch mehr Zeit darauf verwendet, zu warten, während Rose Sversky die Mullbinde untersuchte. Mechanisch fuhr sie nach Hause, duschte und zog einen schwarzen Rock nebst weißer Seidenbluse an, die ihr Daniel letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Währenddessen hämmerte ihr Kopf, und ihr Herz schmerzte.
Es verlangte sie so sehr danach, andere Antworten auf Daniels Tod zu finden als die offensichtlichen. Ihr Verstand bot ihr in einem fort hoffnungsvolle Hinweise dar, die sie an Erics Schuld zweifeln ließen, und doch fragte sie sich, ob sie womöglich nur das sah, was sie sehen wollte. Der Um stand, dass Curtis behauptete, Daniel schreien gehört und die Tür aufgebrochen zu haben, um zu sehen, wie Eric ihn biss, stand im Widerspruch zu dem, was Rose gesagt hat te, nämlich dass Daniel ohnmächtig war, als ihm die Kehle durchgeschnitten wurde.
Vielleicht irrte sich Curtis, oder er hatte Daniels Schreie vernommen, bevor er niedergeschlagen worden war. Die Tatsache, dass Eric es nicht nötig hatte, ein dermaßen blutiges Durcheinander anzurichten, war nicht von der Hand zu weisen; andererseits war er womöglich einfach darauf aus gewesen, seinen Erzfeind auf möglichst grausame Weise auszuschalten.
Eric? Grausam? Niemals.
Tamara bemühte sich, die Spuren ihres emotionalen Wirrwarrs so gut als möglich unter einer Schicht Make-up zu verbergen, bevor sie zu der Kirche in der Innenstadt von Byram fuhr und für eine kurze, oberflächliche Predigt in der ersten Reihe Platz nahm. Sie mutmaßte, dass es sich dabei um die Standardpredigt handelte, die sie für jene bereithielten, die zwar treu ihre Kirchensteuer zahlten, jedoch schon lange nicht mehr zum Gottesdienst gekommen waren.
Als die Predigt geendet hatte, setzte sie ein gekünsteltes Lächeln auf und nahm die Beileidsbekundungen der Anwesenden entgegen. Ihr fiel auf, dass es sich bei den meisten davon um Kollegen handelte. Daniels Arbeit war sein Leben gewesen. Es wäre angebrachter gewesen, den Gottesdienst in seinem Büro abzuhalten oder in seinem Kellerlabor.
Als es schließlich vorüber war, kam Curtis zu ihr herüber, ergriff ihre Hände und half ihr auf die Füße. Sie hatte bemerkt, dass er bloß ein paar Plätze entfernt saß und sie den gesamten Gottesdienst über nachdenklich beobachtet hatte. „Gehst du jetzt nach Hause?“, fragte er.
Sie nickte. „Ich bin erschöpft. Ich glaube nicht, dass irgendetwas von alldem bislang wirklich zu mir durchgedrungen ist.“
„Wie geht die Suche nach dem Jungen voran?“
Sie seufzte. „Überhaupt nicht. Ich werde Kromwell bitten, das FBI einzuschalten. Er hat Freunde dort.“
„Die habe ich ebenfalls“, sagte Curtis schnell. „Lass mich das für dich erledigen.“
Ihre Augen verengten sich unmerklich. Irgendwie schien sein Lächeln falsch zu sein, was jedoch vermutlich genauso auf ihr eigenes zutraf, dachte sie. „In Ordnung. Ich kann alle Hilfe brauchen, die ich kriege.“ Sie schluckte, als ihr Unbehagen immer mehr zunahm. „Es war nett von dir, letzte Nacht bei mir zu bleiben, Curtis. Aber wenn es dir nichts ausmacht, würde ich heute Nacht lieber allein sein. Ich muss … über einiges nachdenken. Verstehst du das?“
Er nickte. „Ruf mich an, wenn du mich brauchst.“ Er beugte sich vor, hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Lippen und drückte ihre Schultern. Sie verfolgte, wie er sich entfernte, und streifte ihre Jacke über. Sie war selbst auf dem Weg zur Tür, als eine sanfte Hand auf ihrem Arm sie innehalten ließ. Sie wandte sich um, und beim teilnahmsvollen Blick auf Hilarys Antlitz brach sie ohne Vorwarnung in Tränen aus.
Hilary schloss sie fest in die Arme, und so standen sie da, bis Tamara sich ausgeweint hatte. Sie fühlte sich besser und war dankbar, eine Freundin zu haben, mit der zusammen sie weinen konnte. Hilary tupfte sich die feuchten Augen ab. „Du weißt, wenn du irgendetwas brauchst …“
„Ich weiß.“ Tamara nickte und wischte mit einer Hand ungeduldig über ihr nasses Gesicht.
„Gibt es denn irgendwelche Neuigkeiten wegen des
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