Fantasien der Nacht
kleinen Jungen?“
Tamara blickte in Hilarys Rehaugen und hatte das Gefühl, jeden Moment erneut loszuheulen. Sie schniefte und kämpfte gegen die neuerlichen Tränen an. „Nein, bislang nicht. Ich habe ein Stück Mull mit Rückständen von Chloroform in der Nähe der Stelle gefunden, wo er zuletzt gesehen wurde. An dem Mull ist auch eine Blutspur, und sobald ich mit Jameys Mutter gesprochen habe, weiß ich, ob es sich dabei um seine Blutgruppe handelt.“
„Warum so umständlich?“
Tamara runzelte nur die Stirn.
„Du willst mir allen Ernstes sagen, du weißt nicht, welche Blutgruppe Jameson Bryant hat?“
„Nein, das weiß ich nicht. Ich nehme an, dass sie in seiner Akte steht, aber …“
„Ich weiß, dass sie in seiner Akte steht. Das war eins der ersten Dinge, die in seine Unterlagen aufgenommen wurden. Er hat dieselbe Blutgruppe wie du, Tamara. Dieses Belladonna-Dings. Ich kann nicht glauben, dass du das nicht wusstest.“
„Belladonna?“ Tamara konnte nicht glauben, was sie da hörte. „Hilary, woher weißt du das?“
„Ich bin diejenige, die angewiesen wurde, sämtliche medizinischen Unterlagen über ihn, die in Stufe eins fielen, in den DPI-Computer einzugeben. Ich weiß noch, wie ich seinerzeit dachte, dass diese Einstufung für einfache medizinische Daten ziemlich hoch wäre, aber …“
„Von wem kam die Anweisung?“
Hilary legte die Stirn in Falten. „Ich weiß es nicht; durch die üblichen Kanäle, nehme ich an. Sieh mal, ich schätze, ich sollte eigentlich überhaupt nicht mit dir darüber reden, Tam. Ich meine, das ist Stufe eins, und deine Sicherheitsfreigabe …“
„Ist nicht hoch genug“, sagte Tamara langsam.
Unmittelbar darauf verabschiedete sich Tamara, während Hilary ihr stirnrunzelnd nachsah. Sie stieg in ihren Wagen und ließ die Kirche hinter sich, ohne sonderlich auf den Verkehr zu achten. „Er besitzt das Antigen“, murmelte sie zu sich selbst. „Und vielleicht auch die Blutlinie? – Natürlich, auch die. Deswegen ist meine psychische Verbindung zu ihm stärker als zu irgendwem sonst.“
Allmählich dämmerte ihr, dass derjenige, wer auch immer festgelegt hatte, diese Unterlagen als Stufe eins zu klassifizieren, sie absichtlich über ihrer eigenen Sicherheitsfreigabe eingestuft hatte. Er wollte nicht, dass sie davon erfuhr.
„Aber das DPI wusste es. Es wusste, dass wir uns nahestehen, und es wusste, dass ich Jamey zu Hilfe kommen würde, wenn er in Schwierigkeiten steckt.“ Sie blinzelte hastig. „Jamey wurde entführt, um mich aus dem Haus zu locken … und dann wurde Daniel ermordet.“
Eric wäre niemals imstande, einem kleinen Jungen Schaden zuzufügen. Darüber hinaus war Jamey am helllichten Tage entführt worden. Eric hatte Daniel nicht umgebracht. Aber jemand hatte es getan … jemand mit Zugriff auf Stufe-eins-Daten. Jemand, der wollte, dass es so aussah, als wäre hier ein Vampir am Werk gewesen.
„Und außerdem jemand, der von dem Treffen zwischen Daniel und Eric wusste“, flüsterte sie. Sie biss sich auf die Unterlippe. „Curtis?“
Um ein Haar hätte sie die Auffahrt verpasst. Sie trat auf die Bremse und riss das Lenkrad herum. Sie würgte den Motor nahe der Eingangstür ab, stieg aus, um hineinzulaufen, und verriegelte die Tür hinter sich.
„Mein Gott, kann das wahr sein? War Curtis so außer sich, dass er Daniel ermordet hat?“ Sie presste die Fingerspitzen gegen ihre Schläfen. „Was, zum Teufel, hat er mit Jamey angestellt?“
Sie schluckte ein Schluchzen hinunter und eilte die Treppe hinauf zu Daniels Zimmer. In kürzester Zeit fand sie seinen Schlüsselbund und lief damit wieder nach unten, während die Schlüssel in dem stillen Haus klingelten wie eine Alarmglocke. Sie verharrte nicht an der Kellertür. Wenn sie jetzt zögerte, würde sie niemals dort hinuntergehen. Sie schob den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn um und stieß die Tür auf.
Es war später Nachmittag. Draußen reflektierte der schneebedeckte Boden das Sonnenlicht immer noch so stark, dass es sie in den Augen schmerzte, während sich hier zu ihren Füßen ein dunkler Abgrund auftat. Sie vermochte nicht einmal die Treppe auszumachen. Gleichwohl, aller Wahrscheinlichkeit nach lagen die Antworten auf all ihre Fragen nur ein paar Stufen tiefer. Ihr blieb gar keine andere Wahl, als hinunterzugehen.
Keith
16. KAPITEL
Jamey schüttelte den Kopf in dem Bemühen, ihn freizubekommen, doch das bescherte ihm lediglich quälende Schmerzen. Er war bewusstlos gewesen
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