Fantasien der Nacht
genauerer Betrachtung war er nicht unbedingt davon überzeugt, dass Mozart das weniger wünschenswerte Schicksal zuteilgeworden war. Von ihnen beiden war Mozart im Grunde besser dran. Er war gewiss nicht so einsam wie Eric. Manchmal wünschte er sich, dass die Guillotine ihn vor Roland erwischt hätte.
Solch rührselige Gedanken in einer so entzückenden Schnee nacht? Ich kann mich nicht entsinnen, dass du damals ebenso begierig darauf gewesen bist, der Klinge zu begegnen.
Roland! Eric hob den Kopf, schwirrend vor Lebenskraft, nun, da die Sonne untergegangen war. Er stand auf und öffnete rasch die Schlösser, ehe er durch den Flur eilte und – immer zwei Stufen auf einmal nehmend – die Treppe hinauflief. Er riss die Eingangstür auf, als sein bester Freund die Verandastiege hinaufkam. Die beiden Männer umarmten einander ungestüm, bevor Eric Roland hereinzog.
In der Mitte des Raums blieb Roland stehen, neigte den Kopf zur Seite und lauschte den Klängen Mozarts. „Was ist das? Gewiss keine Schallplatte. Es klingt, als befände sich hier ein Orchester, geradewegs in diesem Zimmer!“
Eric schüttelte den Kopf; er hatte ganz vergessen, dass er die moderne Stereoanlage mit Lautsprechern in jedem Raum erst nach Rolands letztem Besuch installiert hatte. „Komm, ich zeig’s dir.“ Er zog seinen Freund hinüber zu der Anlage, die vor der gegenüberliegenden Wand aufgebaut stand, und holte eine CD aus ihrer Hülle. Roland drehte die Scheibe in seiner Hand und beobachtete, wie das Licht in leuchtenden Regenbögen aus Grün, Blau und Gelb darauf tanzte.
„Dort, wo ich mich aufgehalten habe, gab es derlei Neuerungen nicht.“ Er legte die Disc in die Hülle zurück und stellte sie wieder ins Regal.
„Wo hast du dich denn aufgehalten, du Einsiedler? Es ist zwanzig Jahre her.“ Dennoch war Roland seitdem keinen Tag älter geworden. Noch immer waren ihm das auf dunkle Weise gute Aussehen eines zweiunddreißigjährigen Sterblichen und der Körper eines Athleten zu eigen.
„Aah, im Paradies. Eine winzige Insel im Südpazifik, Eric. Keine sich in alles einmischenden Menschen, mit denen man sich herumschlagen muss. Lediglich einfache Einheimische, die einfach akzeptieren, was sie sehen, statt das Verlangen zu haben, es irgendwie erklären zu müssen. Ich sage dir, Eric, für jemanden von unserer Art ist das dort der Himmel. Die Palmen, der süße Duft der Nacht …“
„Wie hast du gelebt?“ Eric war sich darüber im Klaren, dass er zweifelnd klang. Er hatte die Einsamkeit dieses Daseins stets verabscheut, indes Roland sie begrüßte. „Sag mir nicht, dass du die unschuldigen Eingeborenen zur Ader gelassen hast.“
Rolands Augenbrauen zogen sich zusammen. „Du solltest mich besser kennen. Die Tiere dort haben mich mit allem Nötigen versorgt. Besonders die Wildschweine …“
„Schweineblut!“, stieß Eric hervor. „Ich glaube, die Sonne hat ein Loch in deinen Sarg gebrannt! Schweineblut! Igitt!“
„Wildschweine, keine Schweine.“
„Ich schätze, das ist ein großer Unterschied.“ Eric drängte Roland in Richtung des antiken samtbezogenen Sofas. „Nimm Platz. Ich hole dir eine Erfrischung, damit du wieder zu Sinnen kommst.“
Argwöhnisch verfolgte Roland, wie Eric zu dem eingebauten Kühlschrank hinter die Bar ging. „Was hast du da? Lagerst du vielleicht ein halbes Dutzend unlängst gemeuchelter Jungfrauen in dem Ding?“
Eric warf den Kopf zurück und lachte; ihm fiel auf, dass es schon eine ganze Weile her war, seit er das das letzte Mal getan hatte. Er holte einen Plastikbeutel aus dem Kühlschrank und kramte unter der Bar nach Gläsern. Als er Roland den Drink reichte, fühlte er sich genauestens beobachtet.
„Sind es die nächtlichen Schreie des Mädchens, die dich so beunruhigen?“
Eric blinzelte. „Du hast sie auch gehört?“
„Ich höre ihre Schreie, wenn ich deine Gedanken lese, Eric. Deshalb bin ich hergekommen. Sag mir, was hier vor sich geht.“
Eric seufzte und nahm in einem krallenfüßigen, brokatbezogenen Stuhl nahe des Kamins Platz, in dem nur noch eine Handvoll Kohlen glomm. Er sollte das Feuer wirklich wieder entfachen. Falls es irgendwelchen neugierigen Menschen gelang, das Tor zu überwinden und das Sicherheitssystem zu umgehen, sahen sie vielleicht den aus dem Schornstein aufsteigenden Rauch.
Als er seine Gedanken las, setzte Roland sein Glas ab. „Ich kümmere mich darum. Erzähl du nur.“
Eric seufzte wieder. Wo sollte er beginnen? „Unmittelbar nachdem
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