Fantasien der Nacht
Kopf freizubekommen.
Vor Sonnenuntergang aufzustehen hatte stets eine ähnliche Wirkung auf ihn wie eine durchzechte Nacht auf einen Menschen. Mit einer Hand gegen das glatte Mahagoniholz drückend, strich er mit den Fingerspitzen über die Satinfütterung im Inneren und konzentrierte sich auf Tamara.
Er wollte sie lediglich beruhigen. Wenn es ihm gelang, die Qualen ihres Unterbewusstseins zu lindern, würde es ihr besser gehen, auch wenn sie sich selbst darüber vielleicht nicht ganz im Klaren war. Womöglich fand sie dann sogar ein wenig mehr Schlaf. In dieser Hinsicht konnte er sich jedoch nicht sicher sein, schließlich befand sich Tamara in einer noch nie da gewesenen Situation.
Er konzentrierte sich auf ihre Gedanken, während ihre geflüsterten Bitten noch in ihm nachhallten. Eric, wo bist du? Warum kommst du nicht zu mir? Ich bin verloren. Ich brauche dich.
Er schluckte einmal und wandte jede Unze seiner Kraft für einen einzigen unsichtbaren Gedankenstrahl auf, der durch Zeit und Raum geradewegs zu ihr schoss. Ich bin hier, Tamara.
Ich kann dich nicht sehen!
Diese unmittelbare Reaktion ihrerseits überraschte ihn. Er war nicht sicher gewesen, ob er imstande war, seine Gedanken für sie hörbar zu machen. Erneut konzentrierte er sich. Ich bin in deiner Nähe. Ich komme bald zu dir, Liebste. Jetzt musst du dich ausruhen. Es ist nicht mehr nötig, dass du in deinen Träumen nach mir rufst. Ich habe deinen Ruf vernom men – ich werde kommen.
Er wartete auf eine Antwort, die jedoch ausblieb. Die Gefühle, die zu ihm durchgedrungen waren, wirkten angespannt und unsicher. Er wollte ihr die Bürde ihrer Gedanken erleichtern, aber für den Augenblick hatte er alles getan, was in seiner Macht stand.
Die Sonne stand noch hoch am Himmel, und obgleich er sie nicht sah, spürte er sie. Sie schwächte ihn. Er wartete einen Moment, bis er sicher war, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, dann ging er langsam zum Kamin hinüber, um die Glut des Morgenfeuers wieder zu entfachen. Als das erledigt war, benutzte er ein langes Streichholz, um die drei Öllampen zu entzünden, die im Raum verteilt standen.
Dank der aromatischen Wärme des duftenden Kirschholzes und des goldenen Lampenscheins sowie der Perserteppiche auf dem Betonboden und der Gemälde, die er aufgehängt hatte, wirkte der Raum ein bisschen weniger wie ein Grab in den Eingeweiden der Erde.
Er ließ sich behutsam in den übergroßen Eichenschaukelstuhl sinken und versuchte sich zu entspannen. Sein Kopf fiel schwer gegen das Polster, während er, ohne hinzuschauen, nach der Fernbedienung auf dem Beistelltischchen neben sich griff. Er drückte einen Knopf. Seine schweren Augenlider schlossen sich, als rings um ihn her Musik aufklang.
Ein Lächeln kräuselte seine Lippen, als die bittersüßen Klänge eine Erinnerung in ihm wachriefen. Er hatte den jungen Amadeus in Paris spielen sehen. War es anno 1775? Vor so langer Zeit. Er war wie verzaubert gewesen – ein gewöhnlicher Knabe von siebzehn, von Ehrfurcht ergriffen angesichts der Gabe eines Jungen, der allenfalls zwei Jahre älter war.
Wenn er sich recht entsann, hatte ihn dieses wunderbare Gefühl auch noch Tage nach jener Darbietung erfüllt. Er hatte darüber gesprochen, bis seiner armen Mutter die Ohren schmerzten. Er hatte Jacqueline so weit gebracht, zu behaupten, sie habe sich in diesen Mann verliebt, den sie noch nie getroffen hatte; dann hatte sie ihn so lange bekniet und beschwatzt, bis er sich schließlich bereit erklärte, ihr bei der Vorstellung am nächsten Abend einen Platz neben sich zu beschaffen.
Gleichwohl, seine Schwester war nicht imstande, nachzuvollziehen, was ihn dermaßen beeindruckt hatte.
„Er ist gut“, sagte sie, während sie sich in der heißen überfüllten Halle Luft zufächelte. „Aber ich habe schon bessere gesehen.“
Er lächelte, als er sich daran erinnerte. Ihre Bemerkung bezog sich weniger auf das Talent des jungen Mannes als vielmehr auf sein Aussehen. Er hatte sie dabei ertappt, wie sie über den spitzenbesetzten Rand ihres Fächers hinweg einen hageren Dandy beobachtete, den sie offenbar als „besser“ erachtete.
Er seufzte. Damals hatte er es als Tragödie empfunden, dass ein Mann von solchem Genie mit fünfunddreißig aus dem Leben scheiden musste. In letzter Zeit jedoch fragte er sich, ob das tatsächlich so tragisch war.
Eric war ebenfalls mit fünfunddreißig gestorben, wenn auch auf gänzlich andere Weise. Sein Tod war ein lebendiger. Bei
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