Fantasien der Nacht
du das letzte Mal gegangen bist, habe ich die Bekanntschaft eines Kindes gemacht. Ein wunderschönes Mädchen mit rabenschwarzen Locken, hohen Wangenknochen und Augen wie glänzende Kohlestücke.“
„Eine der Auserwählten?“ Roland richtete sich auf.
„Ja. Sie war einer jener seltenen Menschen, die eine gewisse geistige Verbindung zu den Untoten besitzen, auch wenn sie sich, so wie die meisten anderen auch, dessen nicht bewusst war. Ich habe festgestellt, dass es Möglichkeiten gibt, die Auserwählten aufzuspüren – das heißt, einmal abgesehen von unserer natürlichen Fähigkeit, sie zu erkennen.“
Vor dem Kamin hockend, wandte sich Roland zu ihm um. „Tatsächlich?“
Eric nickte. „All jene Menschen, die wir verwandeln können, die wir die Auserwählten nennen, haben einen gemeinsamen Vorfahren. Prinz Vlad den Pfähler.“ Er sah Roland aufmerksam an. „War er der Erste?“
Roland schüttelte den Kopf. „Ich weiß um deine Leidenschaft für die Wissenschaft, Eric, aber einige Dinge sollte man besser ruhen lassen. Erzähl bitte weiter.“
Angesichts von Rolands wortkarger Stellungnahme zu diesem Thema spürte Eric, wie eine Woge der Frustration über ihn hinwegbrandete. Er schluckte seine Irritation herunter und fuhr fort: „Sie alle besitzen außerdem ein seltenes Antigen im Blut; als Menschen hatten wir das ebenfalls. Man kennt es als Belladonna. Nur diejenigen, die diese beiden ungewöhnlichen Merkmale aufweisen, sind imstande, zu Vampiren zu werden. Sie sind die Auserwählten.“
„Das scheint mir keine sonderlich weltbewegende Entdeckung zu sein, Eric. Wir sind seit alters her instinktiv in der Lage, die Auserwählten zu spüren.“
„Aber andere Menschen nicht. Einige von ihnen haben jetzt dieselbe Entdeckung gemacht wie ich. Das DPI weiß darüber Bescheid. Sie sind imstande, auserwählte Menschen exakt zu bestimmen; dann beobachten sie sie und warten darauf, dass einer von uns sich ihnen nähert. Ich glaube, genau das ist Tamara widerfahren.“
„Vielleicht solltest du dich ein wenig mehr im Hintergrund halten, alter Freund“, sagte Roland behutsam.
Eric fuhr sich mit einer Hand durch sein schwarzes Haar, ließ es von seinen Schultern gleiten und grub die Finger in den Wust. „Ich kann sie nicht sich selbst überlassen, Roland. Lieber Himmel, ich habe es versucht, aber es geht nicht. Irgendetwas an ihr lässt mich nicht los. Ich habe bei ihr vorbeigeschaut, während sie schlief. Du hättest sie sehen sollen. Schwarze Wimpern auf rosigen Wangen; Lippen, kleinen pinkfarbenen Bögen gleich.“
Er blickte auf und hielt es seltsamerweise für nötig, sich zu rechtfertigen. „Ich wollte ihr nie ein Leid zufügen, weißt du? Wie könnte ich auch? Ich habe dieses Kind angebetet.“
Roland runzelte die Stirn. „Du solltest dir darüber keine Gedanken machen. Dass dieses unsichtbare Band zwischen denen von unserer Art und den Auserwählten existiert, ist keine Neuigkeit. In wie vielen Nächten habe ich nach dir gesehen, als du noch ein Junge warst? Meistens hast du allerdings nicht geschlafen. Für gewöhnlich warst du wach und hast deine arme Schwester geneckt.“
Eric nahm diese Information mit allmählichem Begreifen auf. „Das hast du mir nie erzählt. Ich war der Ansicht, du wärst nur gekommen, wenn ich mich in Gefahr befand.“
„Es tut mir leid, dass wir noch nie darüber gesprochen haben, Eric. Es ist einfach nie zur Sprache gekommen. Du hast mich bloß dann gesehen, wenn du in Gefahr warst. Es war kaum die rechte Zeit für derlei Aussprachen, wenn du kurz davor standest, von einer Kutsche überrollt zu werden, oder als ich dich prustend aus dem Kanal zog.“
„Dann hast du dieselbe Verbindung zu mir gehabt wie ich zu ihr?“
„Ja, ich habe eine Verbindung gespürt. Den Drang, dich zu beschützen. Ich kann nicht sagen, ob es dieselbe ist, da ich nicht weiß, was du für dieses Kind empfunden hast. Allerdings hatten im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Kinder einen Vampir als Beschützer, ohne sich jemals darüber im Klaren zu sein, Eric. Schließlich suchen wir ihre Nähe nicht, um ihnen zu schaden, sie zu verwandeln oder auch nur Kontakt aufzunehmen. Wir sind nur da, um über sie zu wachen und sie zu beschützen.“
Erics Schultern sackten nach vorn, so groß war seine Erleichterung. Er schüttelte unmerklich den Kopf und fuhr dann mit seiner Geschichte fort: „Eines Nachts wurde ich wach, weil ich spürte, wie ihr Lebenshauch nachließ. Ihre Kraft schwand so rasch,
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