Fantasien der Nacht
„Sag ihn, Tamara.“
Ihre ungeweinten Tränen herunterschluckend, krächzte sie: „Eric?“
Er nickte, und ein kleines, zustimmendes Lächeln zierte sein Gesicht. „So ist es. Eric. Wenn du eine Bestätigung hierfür brauchst, bin ich sicher, dass St. Claire sie dir geben kann.“
Sie blickte zu Boden, und ihre Erleichterung war so groß, als sich die Muskeln ihres Halses entspannten. Sie brauchte keine Bestätigung. Sie wusste, dass er die Wahrheit sagte. Aber warum war sie dermaßen erleichtert darüber? Und was am wichtigsten war, warum hatte sie überhaupt von ihm geträumt?
„Du hast mich angefleht, zu dir zu kommen, Tamara, und hier bin ich.“ Er nahm ihr Kinn sanft zwischen die Finger und hob ihr Gesicht zu seinem empor. „Ich bin hier.“
Sie wollte sich in seine Arme werfen. Sie wollte sich voller Inbrunst an ihn klammern und ihn bitten, sie nie wieder zu verlassen. Aber das war verrückt. Es war irrsinnig. Sie war irrsinnig.
Als die Tränen schließlich kamen und langsam über ihr Gesicht rannen, schüttelte sie den Kopf. „Das kann alles nicht wahr sein. Das geschieht nicht wirklich. Ich habe Halluzinationen, oder es ist bloß ein anderer Traum. Das ist alles. Dies geschieht nicht wirklich.“
Unvermittelt zog er sie an sich, legte seine Arme um sie, streichelte mit seinen Händen ihren Rücken und die Schultern, teilte ihr Haar und liebkoste ihren Nacken. „Es geschieht wirklich, Tamara. Ich bin real, und die Gefühle, die du für mich hegst, sind ebenso real … realer als alles andere in deinem Leben, nehme ich an.“
Er wandte den Kopf, und sie spürte, wie er die Lippen auf ihr Haar knapp unterhalb ihrer Schläfen presste … und tiefer, auf ihre Wangenknochen … und noch tiefer, auf das Grübchen auf ihrer Wange.
Seine Stimme dicht neben ihrem Ohr klang rau. „Wie hat St. Claire es vollbracht, das Sorgerecht für dich zu bekommen? Was ist mit deiner Familie geschehen?“
Sie entspannte sich in seinem Griff, um sich von seiner Umarmung wärmen und trösten zu lassen. „Ich war sechs, als ich durch eine Fensterscheibe gestürzt bin“, berichtete sie mit so leiser Stimme, dass sie sie selbst kaum hörte. „Ich habe mir die Arterien an beiden Handgelenken durchtrennt und wäre fast verblutet. Sie sagten, es sei ein Wunder, dass ich durchgekommen bin, weil sie nicht imstande waren, einen Spender mit meiner Blutgruppe zu finden. Alle gingen davon aus, dass ich sterben würde.“
Sie atmete bebend ein. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, sie erinnerte sich kaum an den Unfall oder daran, wie ihr Leben bis zu diesem Zeitpunkt gewesen war. Daniel hatte stets darauf beharrt, dass es sehr wahrscheinlich am besten für sie war, sich nicht daran zu erinnern. Was der Verstand unter Verschluss hält, hält er aus einem bestimmten Grund unter Verschluss, hatte er gesagt. Wenn ihr Kopf der Ansicht war, dass sie nicht imstande wäre, damit umzugehen, traf das vermutlich zu. Immerhin waren Nahtoderlebnisse traumatisch, besonders für ein Kind von sechs Jahren.
Sie stieß die eingeatmete Luft aus, tat einen ruhigeren Atemzug und fuhr fort: „Ich war noch im Krankenhaus, als meine Eltern mit einer extrem seltenen Virusinfektion eingeliefert wurden. Bis die Ärzte das Virus endlich isolieren und identifizieren konnten, waren sie … waren sie beide bereits tot.“
„Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das tut“, sagte er sanft; sein Atem strich über ihre Haut, als er sprach. „Ich wünschte, ich wäre für dich da gewesen.“
„Das wünschte ich mir auch“, kam es ihr über die Lippen, bevor sie die Chance hatte, ihre Worte zu überdenken.
Sie räusperte sich. „Aber Daniel war da. Er arbeitete damals halbtags im Forschungslabor des Krankenhauses. Als er von dem Wundermädchen hörte, besuchte er mich. Anschließend kam er jeden Tag. Er brachte mir jedes Mal Geschenke mit und sprach die ganze Zeit darüber, dass er schon immer ein kleines Mädchen wie mich haben wollte. Zu dem Zeitpunkt, als meine Eltern krank wurden, waren Daniel und ich die besten Freunde. Als sie starben, beantragte er vor Gericht das Sorgerecht für mich und bekam es. Ich hatte keine anderen direkten Angehörigen. Wäre Daniel nicht gewesen, wäre ich vollkommen allein gewesen.“
Sie spürte, wie sein Atem schneller ging und sich sein Körper unmerklich versteifte. „Es tut mir leid.“ Die Worte glichen einem Stöhnen, so viel Schmerz lag darin. Er schloss die Arme fester um sie und wiegte sie
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