Fantasien der Nacht
Nase und Wangen brannten vor Kälte, und ihre Augen tränten. Sie schob sich nach vorne, bis ihre Füße in der Luft hingen, dann atmete sie tief durch, schwang ihr linkes Bein vorwärts und herum, bis sie auf der anderen Seite des Zauns wieder sicheren Boden – zumindest unter einem ihrer Füße – hatte.
Tamara konnte nicht verhindern, dass sie ein weiteres Mal nach unten schaute, als sie sich gegen den Eisenzaun presste, mit einem Arm und einem Bein auf jeder Seite, während ihr Hintern in die Luft ragte. Für einen Moment spülte eine Woge des Schwindels durch ihren Verstand, beinahe im Einklang mit den Wellen von Seewasser unter ihr. Sie musste die Augen schließen, um dagegen anzukämpfen. Sie schluckte dreimal schnell hintereinander, bevor sie es wagte, die Lider wieder zu heben.
Vor Anstrengung aufstöhnend, löste sie ihre rechte Hand vom Äußeren des Zauns und zog sie herum, um einen Eisenstab an der Innenseite zu packen. Sie hielt sich mit aller Macht fest. Alles, was sie jetzt noch tun musste, war, ihr rechtes Bein auf diese Seite zu schwingen. Sie hob es an, zog es über den tosenden Abgrund zu sich heran und setzte den Fuß auf den Boden in der Nähe der Klippe. Gleichwohl, die Erde, auf der sie stand, zerkrümelte wie Zucker in heißem Kaffee.
Zu nah am Abgrund, schoss es ihr durch den Kopf. Ihr rechter Fuß schabte über die glatte Wand der Klippe, bis ihr gesamtes Bein bis zum Oberschenkel in Erwartung des sicheren Todes auf die Felsen unter ihr deutete. Ihr linkes Bein lag flach auf dem Boden, sodass sie beinahe einen Spagat vollführte. Noch immer klammerte sie sich mit ihrer linken Hand am Zaun fest. Ihre Rechte indes hatte den Halt verloren, als sie so schnell und heftig abgerutscht war.
Die filigrane Ranke, an der sie sich festhielt, begann allmählich in ihre Finger zu schneiden; erst brannten sie, um nur Momente später in einem fort zu pochen. Mit jeder Sekunde, die sie sich länger festklammerte, wurde ihr klarer, dass sie sich nicht mehr lange würde halten können. Die Muskeln ihres flach auf den Boden gepressten Oberschenkels waren so fest gespannt wie die Saiten einer Violine.
Verzweifelt grub sie ihre Zehen in die Felswand, wohl wissend, dass das keinen Zweck hatte. Jene Felsen inmitten des aufgewühlten schwarzen Wassers würden ihr zum Verhängnis werden … und das alles nur, um sich selbst zu beweisen, dass Eric Marquand kein Vampir war.
Ihre Finger verloren den Halt. Ihr Oberschenkel pulsierte vor Pein. Sie rutschte ein paar Zentimeter weiter ab. Dann ertasteten ihre Zehen einen kleinen Vorsprung in der Felswand. Sie stellte sich darauf und betete, dass er halten möge; das tat er, und es gelang ihr, sich weiter nach oben zu ziehen, um mit ihrer freien Hand den Zaun zu packen. Sie kletterte empor, schrammte mit ihrem Fuß über den glatten Stein und hievte ihren Körper empor, bis sie schließlich oben auf der festen schneebedeckten Erde zu liegen kam.
Dort ruhte sie sich eine ganze Weile aus; ihre Hände umklammerten noch immer die kalten Eisenstangen, die ebenso gegen ihr Gesicht drückten. Sie zitterte und wünschte sich, niemals zu dieser wahnwitzigen Mission aufgebrochen zu sein.
Genau der richtige Zeitpunkt, um meine Meinung zu ändern, dachte sie. Ich werde mit Sicherheit nicht auf demselben Weg von hier verschwinden, wie ich gekommen bin. Sie seufzte, hob den Kopf und erhob sich. Alles, was sie tun musste, war, hineinzugehen, Eric ihre Verwirrung zu gestehen und zu hoffen, dass er sich nicht über sie kaputtlachen würde. Dann wurde ihr der Ernst der Lage bewusst. Möglicherweise war er über ihr Eindringen nicht im Mindesten erfreut. Vielleicht war es ihm ebenso zuwider, dass sie ihm hinterherschnüffelte, wie es ihm bei Daniel zuwider war.
Sie klopfte sich Schnee und feuchte Erde von den Jeans, ehe sie zusammenzuckte und ihre Hand fortzog. Ein schmales Rinnsal Blut besudelte den Jeansstoff, und als sie die Handfläche nach oben drehte, stellte sie fest, dass scharlachrote Spinnfäden aus ihren Fingerbeugen rannen.
Sie versuchte den kleinen Schauder zu unterdrücken, der ihren Rücken hinablief, ballte ihre Hand zur Faust und schob sie in die Tasche, ehe sie über den verschneiten Boden auf die Rückseite von Erics Haus zumarschierte. Sie klopfte an die Terrassentür, die ihrer eigenen glich. Als niemand darauf reagierte, klopfte sie ein bisschen kräftiger. Immer noch keine Antwort.
Er war nicht zu Hause. Und sie säße so lange hier in seinem Hinterhof
Weitere Kostenlose Bücher