Fantasien der Nacht
sie sich ein kleines Gläschen von dem gönnte, was auch immer er anzubieten hatte.
Sie trat hinter die Theke und beugte sich vor, um die fast leeren Regale darunter in Augenschein zu nehmen. Hier fand sich keine einzige Flasche, lediglich Gläser und einige teure, geschliffene Kristallkaraffen. Sie richtete sich mit gerunzelter Stirn auf und drehte sich um, als sie das beinahe unmerkliche Brummen des kleinen Kühlschranks vernahm, der in die Wand hinter ihr eingebaut war.
Über ihr eigenes Versehen lächelnd, packte Tamara den Griff und zog daran …
Ein winziger Eisbrocken setzte sich inmitten ihrer Brust fest und wuchs langsam weiter, bis er schließlich ihren gesamten Körper umschloss.
Ihre Kinnlade fiel hinab. Sie trat einen Schritt zurück, blinzelte, unfähig, zu glauben, was sich ihrem Blick darbot. Blut. Zwei ordentliche Stapel mit blutgefüllten Plastikbeuteln. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie ins tosende Herz eines Wirbelsturms gestürzt. Sie sah nichts außer einem dünnen roten Nebel, hörte nichts außer einem ohrenbetäubenden Getöse.
Benommen drückte Tamara gegen die kleine Tür; sie schwang zu, schloss sich jedoch nicht richtig und öffnete sich wieder, bis sie von Neuem weit aufstand. Sie achtete nicht darauf. Sie wandte sich ab, vergrub das Gesicht in den Händen und presste ihre Fingerspitzen gegen ihre Augenlider, als könnte sie auf diese Weise das auslöschen, was sie soeben gesehen hatte.
„Das kann nicht wahr sein. Das kann einfach nicht wahr sein. Ich drehe mich jetzt um. Ich drehe mich jetzt um, und wenn ich wieder hinschaue, ist es nicht mehr da, weil es nicht wirklich existiert.“
Doch sie drehte sich nicht um. Tamara hob den Kopf, schaute zur Terrassentür hinüber und eilte darauf zu. Sie wollte laufen, konnte es jedoch nicht. Die Schritte ihrer sockenbewehrten Füße auf dem Parkettboden kamen ihr absurd laut vor. Sie hatte das Gefühl, von überall her beobachtet zu werden.
Ihr Blick glitt unstet umher, einem Vogel gleich, der auf einem Baum von Zweig zu Zweig hüpft. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass jemand direkt hinter ihr stand, ganz egal, wohin sie sich wandte. Sie bewegte sich vorwärts, wirbelte herum und trat einige Schritte zurück. Nur noch einen Meter weiter. Sie nahm ihre Stiefel auf.
Beim Hinauslaufen ergriff sie ihren Mantel. Sie hatte nicht vor, innezuhalten, um beides anzuziehen. Noch ein Schritt. Ein unsichtbarer Finger aus Eis strich ihr Rückgrat entlang.
„Das ist vollkommen verrückt“, flüsterte sie, drehte sich hastig um und ging wieder rückwärts. „Das ist alles vollkommen verrückt – dieser Ort, ich. Ich bin verrückt.“ Ihre Gedanken gerieten außer Kontrolle, und sie schwankte, drehte sich erneut um, bereit, aus der Tür zu stürmen. Gleichwohl, ein breiter, muskulöser Oberkörper, in steife weiße Baumwolle gehüllt, versperrte ihr den Weg.
Tamara schreckte unwillkürlich zurück, doch Erics Hände legten sich auf ihre Schultern, bevor sie sich auch nur einen Schritt entfernen konnte. Sie stand da wie angewurzelt und starrte ungläubig zu ihm empor, während ihre Atemzüge zu schnell und zu flach über ihre Lippen kamen. In ihrem Kopf drehte sich alles.
Gegen ihren Willen sah sie ihm ins Gesicht. Seine Augen funkelten, und sie empfand mehr als bloßes Entsetzen vor diesem Mann. Ein widerwärtiges Gefühl von Verlust und Verrat befiel sie. Daniel hatte die ganze Zeit über recht gehabt.
„Was machst du hier, Tamara?“
Sie versuchte zu schlucken, doch ihr Hals war so ausgedörrt wie die Wüste. Sie zog sich aus seinem Griff zurück und war überrascht, als er seine Hände ohne Weiteres von ihren Schultern gleiten ließ. Eine fremde Stimme hinter ihr sorgte dafür, dass sie innerhalb eines Lidschlags herumwirbelte. „Herumschnüffeln natürlich. Ich sagte dir doch, dass du ihr nicht trauen kannst, Eric. Sie gehört zum DPI.“
Der Mann, der neben der Theke stand, wies mit einer Hand auf den offenen Kühlschrank. Allein dieser erste Eindruck von ihm genügte beinahe, um ihr auch den letzten Rest ihres Verstandes zu rauben, der ihr noch geblieben war. Er war ganz in Schwarz gekleidet, mit einem bis zum Boden reichenden Satinmantel, der ihn fast völlig einhüllte. Er bewegte sich mit der unfassbaren Grazie und verborgenen Kraft eines Panters.
Die Anziehungskraft, die von ihm ausging, war beinahe mit Händen zu greifen. Sein auf dunkle Weise attraktives Aussehen strafte die zeitlose Weisheit in den Untiefen
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