Farben der Liebe
intensivieren.
Sein Blick gleitet über die verlockende Erscheinung, nimmt jede Einzelheit in sich auf. Die enge Jeans betont schmale Hüften und lange, schlanke Beine. Das lockere Sweatshirt umschmeichelt den Oberkörper, lässt ihn kräftiger wirken. In der Praxis hatte ein weißes Poloshirt Heiko einen ungefähren Eindruck vermittelt. Hagere Brust und ein flacher Bauch. Wie alt mag Uli sein? Beide sind sie Motorradfans. Ob sich wohl noch mehr Gemeinsamkeiten finden lassen? Alter, was spinnst du dir schon wieder zusammen? Du kennst den Typen gerade ein paar Stunden. Hör auf zu träumen.
Ihm wird durch den Mann an seiner Seite einmal mehr bewusst, wie einsam er im Grunde ist. Endlich keine beruflichen Verpflichtungen mehr, tun und lassen können, was er will. Wozu das alles, wenn man allein ist? Niemand, mit dem man reden, lachen oder traurig sein kann. Niemand, der die gleichen Interessen teilt. Niemand, der einem die Hand hält, wenn man sich beschissen fühlt. Seufzend nimmt er einen großzügigen Schluck aus dem Glas. Heftig reibt er sich über das Gesicht, um die trüben Gedanken zu vertreiben.
„Was ist los? Du wirkst plötzlich extrem abwesend.“ Uli rückt näher, schaut ihn aufmerksam an.
„Kleiner Katzenjammer, geht gleich vorbei“, wiegelt Heiko ab.
Eine Weile herrscht Stille zwischen ihnen, sie schauen sich nur an. Ulis Blick wird unstet. Ist es Verlegenheit? Hat er ein schlechtes Gewissen? Heiko kann es nicht konkret benennen. Uli holt tief Luft, eine Hand stiehlt sich in Heikos Haare, spielt mit den langen Strähnen. „Ich würde dir gerne offen und ehrlich etwas sagen.“
„Okay. Leg los.“ So ein Mist! Heiko würde sich am liebsten in den Hintern treten. Muss er ausgerechnet jetzt über sein Leben philosophieren? Wer will schon mit einem Kerl rummachen, der in Depressionen versinkt und Angst vor dem Alleinsein hat? Jetzt wird er die Quittung für seine geistige Abwesenheit bekommen.
„Hoffentlich erschrecke ich dich nicht.“ Verhaltenes, unsicheres Lachen erklingt. „Du hast heute Morgen wie eine Bombe bei mir eingeschlagen. Dich hier erneut zu treffen, schien mir wie ein Wink des Schicksals. Ich bin 59 und seit über 10 Jahren allein. Ganz ehrlich? … Belangloser Sex interessiert mich nicht. Es war ein Fehler, dich derart unverblümt anzumachen und dadurch einen falschen Eindruck zu erwecken. Mir wäre eher daran gelegen, dich näher kennenzulernen.“
Mit offenem Mund und wohl ziemlich blödem Gesichtsausdruck starrt Heiko sein Gegenüber an. Ihm fehlen die Worte. Uli hat mutig ausgesprochen, was ihm die ganze Zeit durch den Kopf schwirrt. Kein seelenloser Sex. Den braucht er auch nicht. Die Möglichkeit, jemanden zu finden, der gewillt ist, den Herbst des Lebens mit ihm zu teilen, reizt ihn viel mehr. Ein Partner in seinem Alter. Kein junger Kerl, bei dem man explizit weiß, dass der einen bald gegen etwas Neues, Aufregenderes eintauscht.
„Okay, es war falsch, mit der Tür ins Haus zu fallen. Ich sollte besser verschwinden.“ Uli wirft ihm einen resignierten Blick zu und wendet sich ab. Heikos Hand schnellt vor, hält den Mann fest, bevor dieser die Flucht ergreifen kann.
„Moment! Darf ich jetzt was dazu sagen? Du hast mich mit deiner Offenheit ziemlich umgehauen, aber nun hörst du mir ebenfalls zu. Klar?“
Ein warmes Lächeln zaubert viele lustige Falten um die weichen Lippen, macht den Kerl dadurch unglaublich attraktiv. Heiko schlingt den Arm um die schmalen Schultern, sucht Ulis Nähe. Mit gedämpfter Stimme erzählt er von der verrückten Theorie, die Jahreszeiten mit den einzelnen Lebensabschnitten zu verbinden …
„Der Herbst war und ist für mich die schönste Phase. Alles ist reif, die Erntezeit beginnt. Die Früchte der Arbeit werden eingefahren. Farben verändern sich. Das satte Grün der Bäume vergeht, dafür erstrahlen sie rot und golden im Sonnenlicht. Die Natur fährt zurück, stellt schrittweise die Aktivitäten ein. Trotzdem geschieht noch unglaublich viel. Es blühen weiterhin Blumen, die Luft ist erfüllt von satten Gerüchen. Die gleiche Entwicklung durchlaufe ich als Mensch. Ich bin reifer geworden, hadere nicht mehr mit mir, weiß hundertprozentig, wer ich bin. Wenn ich es zulasse, kann ich, genau wie die Bäume, noch einmal in leuchtenden Farben erglühen, alles genießen, was mir das Leben bietet, ehe ich wie ein Blatt falle und verwehe.“
Kurz unterbricht er, muss einen Schluck trinken. Sein Mund ist ganz trocken.
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