Farmer, Philip José - Flusswelt 02
Schmerzen zu betäuben. Zwei Tage zuvor war er von einem herabstürzenden Felsen getroffen worden, der sich von einem Kran gelöst hatte. Zwar hatte der dafür verantwortliche Arbeiter Stein und Bein geschworen, daß es ein Unfall gewesen sei, aber Sam hatte so seine Vermutungen.
Er stieß einen Rauchkringel aus und sagte: »Hast du in letzter Zeit irgendwas von deinem Neffen gehört?«
John zeigte keine Überraschung, wenn man davon absah, daß sein Blick mißtrauischer wurde. Er starrte Sam über den Tisch hinweg an und erwiderte: »Nein. Sollte ich das?«
»Es war nur eine Frage. Ich habe darüber nachgedacht, ob wir Arthur nicht zu einer Konferenz einladen sollten. Es hat doch keinen Sinn, wenn ihr es darauf anlegt, euch gegenseitig umzubringen. Wir sind hier nicht mehr auf der Erde, wie du weißt. Ist es denn nicht möglich, all die früheren Streitigkeiten zu vergessen? Was hättest du davon, wenn du ihn in einen Sack steckst und im Fluß versenkst? Laß Vergangenes vergessen sein. Wir könnten sein Holz gut gebrauchen und benötigen dringend mehr Kalkgestein für Kalziumkarbonat und Magnesium. Und er hat eine Menge davon.«
John starrte ihn an, dann senkte er den Blick und lächelte.
Der hinterfotzige John, dachte Sam. Der aalglatte John. Das absolute Schlitzohr.
»Wenn wir an Kalkstein und Holz herankommen wollen«, führte John aus, »müssen wir mit Eisenwaren dafür bezahlen. Und ich habe nicht das geringste Interesse daran, daß mein braver Neffe noch mehr davon in die Hände bekommt.«
»Ich dachte bloß, es sei besser, dir vorher von der Sache zu erzählen«, sagte Sam, »weil ich heute Mittag…«
John verkrampfte sich. »Ja?«
»Nun, ich dachte, es sei ein ganz guter Gedanke, diese Idee dem Rat vorzulegen. Wir sollten darüber abstimmen.«
John entspannte sich wieder. »Oh?«
Sam dachte: Du fühlst dich deswegen so sicher, weil Pedro Anseurez und Frederick Rolfe auf deiner Seite sind und eine Abstimmung mit dem Ergebnis 5:3 einen Antrag zurückweist.
Erneut nahm er sich vor, bei nächster Gelegenheit die Magna Charta zu ändern, damit jene Dinge, die einfach getan werden mußten, auch getan werden konnten. Aber ein solches Unternehmen konnte einen Bürgerkrieg bedeuten – und das Ende seines Großen Traumes.
Während John mit lauter Stimme von der Eroberung seiner letzten Blondine berichtete, lief Sam ungehalten auf und ab. Er versuchte die detailliert ausgeschmückte Geschichte einfach zu ignorieren und wurde fast verrückt bei dieser unglaublichen Prahlerei, denn bisher hatte sich noch immer jede Frau, die sich John freiwillig hingegeben hatte, anschließend nichts als allgemeinen Spott zu ertragen gehabt.
Wieder klingelte die kleine Glocke. Dann trat von Richthofen ein. Er trug das Haar nun lang und sah mit seinen leicht slawischen Gesichtszügen und der schlankeren Gestalt wie ein gutaussehender Bruder Görings aus. Die beiden kannten sich übrigens bereits aus dem Ersten Weltkrieg, wo sie beide unter Manfred von Richthofen, Lothars prominentem Bruder, gedient hatten. Lothar war ein temperamentvoller, quicklebendiger und grundsätzlich sympathischer Bursche, aber an diesem Morgen war von seinem Lächeln und seiner Freundlichkeit nicht viel übriggeblieben.
»Wie lauten die schlechten Nachrichten?« fragte Sam.
Lothar nahm den Becher mit Bourbon, den Sam ihm anbot, in die Hand, stürzte den Inhalt hinunter und erwiderte: »Sinjoro Hacking hat die Befestigungsarbeiten von Soul City nahezu beendet. Die Mauern sind jetzt zwölf Fuß hoch und an allen Seiten nicht weniger als zehn dick. Hacking hat sich mir gegenüber unverschämt verhalten; sehr unverschämt sogar. Er nannte mich einen Ofejo und einen Honkio, das sind Ausdrücke, die sogar mir neu sind. Ich habe mich auch nicht gewagt, ihn darum zu bitten, sie mir zu übersetzen.«
»Ofejo könnte vom englischen Ofay abgeleitet sein«, sagte Sam, »aber das andere Wort habe ich noch nie gehört. Was sagte er? Honkio?«
»In Zukunft wirst du es garantiert noch des öfteren zu hören bekommen«, meinte Lothar, »jedenfalls dann, wenn du es mit Hacking zu tun bekommst. Und das wirst du. Er kam, nachdem er einige tausend kränkende Ausdrücke ausgespuckt hatte, die meine nationalsozialistischen Nachfahren betrafen, endlich zur Sache. Solange ich auf der Erde lebte – wo ich 1922 bei einem Flugzeugabsturz starb, wie du weißt –, habe ich den Ausdruck >Nazi< nicht einmal gehört. Auf jeden Fall schien er sich ziemlich zu ärgern,
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