Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling
aufregenden Abend, und das macht in der Stube keinen rechten Spaß. Die größeren Buben allerdings lassen sich nichts mehr vorschreiben. Sie gehen erst recht in die gefährliche Nacht hinaus.
Der einundzwanzigjährige Franz Zellweger geht von der Villa seines Onkels über den gekiesten Vorplatz zur Garage. Er holt sein Motorrad hervor, das ihm Onkel Hans zum Abschluss der Unteroffiziersschule geschenkt hat – eine schwarze, zweizylindrige 750er BMW R16. Franz hat lange Beine, breite Schultern und weiße Zähne, und er ist der hoffnungsvollste Spross einer wohlhabenden Laufener Fabrikantenfamilie. All das gefällt den Mädchen, und das weiß der junge Franz. Sein alternder Onkel Hans ist Besitzer einer Korkfabrik und weitverzweigter Tochterunternehmen und kinderlos; er hat Franz nach dem Militärdienst zu sich an den Laufener Hauptsitz genommen, damit der sich unter seinen Augen vorbereite auf die Übernahme des Geschäfts. Franz Zellweger wirft die BMW an und fährt hinaus in die Nacht, um die Bankräuber dingfest zu machen. Wenn die Polizei dazu nicht in der Lage ist, muss er ihr eben ein wenig zur Hand gehen.
*
»Dieser Zellweger war ein Geck«, sagte mein Großvater fünfzig Jahre später mit ungewohnter Heftigkeit, nachdem ich meine Frage dreimal wiederholt hatte. Wir ernteten gerade die Boskop-Äpfel, seine Füße standen drei Leitersprossen über meinen Händen, und er hatte keine Fluchtmöglichkeit. »Ein Geck, weiter nichts. Ich habe ihn ganz gut gekannt, schließlich waren wir beide Turner, Sänger, freisinnig und, hmhm, aus gutem Haus. Ich will nicht sagen, dass er verdient hat, was ihm zugestoßen ist. Aber er war ein Geck. Ein Schönschwätzer mit viel Brillantine im Haar. Hat sich für einen Mädchenschwarm gehalten. Dabei mögen Mädchen solche Typen gar nicht. Glaub mir das.«
*
Am Stadttor wartet Franz Zellwegers bester Freund. Franz hält an und lässt ihn aufsteigen. Heute weiß niemand mehr, wer der Freund war und wie er hieß. Denn erstens wählen sich Burschen wie Franz Zellweger zum besten Freund meist eine unscheinbare Natur; und zweitens haben die Zeitungs- und Polizeischreiber aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes seinen Namen verschwiegen und ihn einfach »Franz Zellwegers besten Freund« genannt.
An jenem Abend also fahren die zwei Freunde auf der BMW aus dem Städtchen und gelangen zum Kontrollposten, wo sie sich ausweisen müssen. Franz Zellweger steigt ab und verwickelt den wachhabenden Polizisten in ein Gespräch. Wie jeder wohlhabende Bürgerssohn lebt er in dem Bewusstsein, dass alle Staatsangestellten von seinen Steuern leben und also genau genommen seine persönlichen Mitarbeiter sind. Nach ein paar vertraulichen Sätzen schlägt er dem Polizisten, der vom Alter her sein Vater sein könnte, jovial auf die Schulter, verabschiedet sich mit aufmunternden Worten und kehrt zurück zu seinem Motorrad. In diesem Augenblick heult ein Blaulicht vorbei; das ist die Ambulanz, die den verletzten Detektiv Walter Gohl nach Basel ins Bürgerspital fährt. Hans Maritz’ Leiche liegt noch immer im Steinbruch.
Franz Zellweger und sein bester Freund brechen auf und fahren am Steinbruch vorbei. Nach hundert Metern Fahrt entdeckt Franz ein schwarzes Auto, das halbverdeckt im Gebüsch steht. Er hält an und leuchtet mit dem Scheinwerfer hinüber. Im Auto sitzen zwei Zivilisten. Franz Zellweger stellt den Motor ab, lässt seinen Freund absteigen, hievt die Maschine auf den Mittelständer und steigt selbst ab.
»Hände hoch!« ruft aus dem Wagen Polizeimann Heinrich Stehlin. Franz Zellweger und sein bester Freund zögern einen Augenblick – da schießt Stehlin, denn die Einsatzleitung hat allen Beamten strikte Weisung erteilt, im Bedarfsfall unbedingt von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. »Aah, Gopferdammi!« ruft Zellweger in eindeutig basellandschaftlichem Idiom und sinkt mit einem Lungendurchschuss zu Boden.
Als Polizeimann Stehlin seinen Irrtum erkennt, rennt er in den nachtschwarzen Wald hinein und kehrt nicht wieder. Zwei Kollegen machen sich auf die Suche und finden ihn Stunden später in einer Kuhle am Fuß einer Fichte, wo er auf den Fersen sitzt, sich vor und zurück wiegt und heult.
Über Franz Zellwegers Bestattung schreibt die »National-Zeitung« vier Tage später:
»Es war ein unvergesslich rührender Anblick, den unglücklichen Polizeimann, der den verhängnisvollen Schuss abgegeben hatte und der trotz seiner Nervenkrise am Grabe erschienen war, in den
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