Fast genial
gedacht, dass mein kleiner Bruder einen Chemiebaukasten hat und sich für solche
Dinge total interessiert. Und da habe ich mir überlegt, dass ich irgendwann mal
mit ihm nach Tijuana fahren könnte, um meinen Vater in seinem Institut zu
besuchen. Aber dann ist mir eingefallen, dass Nicky sich auf langen Autofahrten
immer übergeben muss.“
Sie hielten bei In & Out. Während sie aßen,
redete Francis über nichts anderes als über Ian Doble. Anne-May war
begeistert, dass er Cello spielte, und fand Ian einen sehr schönen Namen.
Francis dagegen stellte sich vor, wie beeindruckt sein Vater wäre, wenn er
Anne-May an seiner Seite sah. Den Cheeseburger in der Hand, machte er Witze,
dass er ab jetzt nur noch mit Dr. Doble junior angeredet werden wolle, dann
erzählte er, dass sein Vater in Harvard studiert hatte und wohlhabend war und
gutaussehend, und die anderen beiden wollten die Akte über ihn lesen, aber die
gab er ihnen nicht, denn die gehörte nur ihm allein.
Auf einem Parkplatz vor der Grenze stellten sie den
Chevy ab, da Grover Angst hatte, dass man ihn drüben stehlen könnte. Es war
weit und breit der einzige Wagen mit einem Nummernschild aus New Jersey.
In der Ferne ragte der Triumphbogen von Tijuana auf.
Über eine Brücke gelangten sie zu Fuß nach Mexiko. Francis blickte auf die
achtspurige Straße unter ihnen. Ein langer Stau, Tausende Autos wollten nach
Amerika - das Land, das sie gerade verlassen hatten. Das auch sein Vater verlassen
hatte. Niemand kontrollierte ihre Ausweise, vermutlich hielt man sie für
amerikanische Teenager, die hier saufen wollten. Staunend sah Francis sich um.
Es war erst das zweite Mal, dass er im Ausland war. Als Kind war er einmal mit
Ryan in Calgary gewesen, aber er konnte sich nur noch daran erinnern, dass es
geschneit hatte. Kurz hinter der Grenze wurden sie schon von den ersten
Taxifahrern bedrängt. Sie kamen an unzähligen Basaren vorbei, auf denen man
Bilder von Heiligen, Sombreros und anderen Mexikokitsch, Essen und billige
Klamotten kaufen konnte.
In einem Lokal an der Hauptstraße „La Revolución“
aßen sie fettige Enchiladas. Die Jugendlichen vom Nebentisch sprachen sie an.
Sie sagten, sie kämen aus Mexiko City und seien überrascht, was für ein
versifftes Nest Tijuana sei, aber man könne hier nachts gut Party machen. Sie
seien auf dem Weg zu Freunden in San Diego und hätten hier kurz Station
gemacht. „Und was macht ihr hier?“
„Wir besuchen meinen Vater“, sagte Francis. „Er
arbeitet hier beim neugegründeten Institut für Chemie.“
Eine der Mexikanerinnen zog respektvoll die Augenbrauen
hoch und meinte, von dem Institut habe sie gelesen. Francis nickte verlegen. So
von seinem Vater zu sprechen war völlig neu für ihn. Vermutlich richtete sich
Ian Doble gerade in seiner Villa ein oder mähte den Rasen, oder er arbeitete im
Institut, diskutierte mit Angestellten und gab Anweisungen. Und dann würden sie
sich zum ersten Mal in die Augen schauen, ein wahnsinniger Moment. Er würde
langsam auf seinen Vater zugehen und mit ihm irgendeinen belanglos freundlichen
Quatsch reden: „Hey, Dad, wie geht's, lange nicht gesehen, haha.“ Francis hatte
das Gefühl, er müsse seinen Vater nur einmal anschauen, nur einmal kurz mit ihm
sprechen, ihn nur einmal berühren, und schon würde sich sein ganzes Leben
verändern. Dann wäre er endlich in der Lage, sein Potential auszuschöpfen und
seine Mutter und sich selbst zu retten.
Von einer Telefonzelle aus rief er im Institut an,
aber dort herrschte Chaos, da der Bau noch nicht fertig war. Keiner konnte ihm
weiterhelfen, und so war er gezwungen, die Adresse auszuprobieren, die Andy ihm
gegeben hatte: Calle Sant Antoni, Sie fragten Passanten, wo die Straße sei, doch auch das
konnte ihnen niemand sagen. Schließlich nahmen sie ein Taxi. Der Fahrer
überlegte zwar lange, aber dann startete er den Motor, und Francis atmete
erleichtert durch.
Auf der Fahrt war er so nervös, dass sein Herz zu
rasen begann und ihm der Schweiß ausbrach. Er stellte sich ein Horrorszenario
nach dem anderen vor. Sein Vater war verschollen oder ermordet worden, oder
sie fanden ihn nicht, oder er nannte ihn einen missratenen Sohn und wollte ihn
nicht sehen. Nach endlosen Minuten hielt der Taxifahrer an, es war ein
schäbiger Außenbezirk. Auf dem Gehsteig lagen kaputte Kühlschränke, Müll und
ausgebrannte Möbel. Die Autos am Straßenrand waren veraltet oder schrottreif,
ein paar erstaunlich hässliche Hunde und Katzen streunten
Weitere Kostenlose Bücher