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Faszination Menschenfresser

Faszination Menschenfresser

Titel: Faszination Menschenfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Ludwig
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waren es zwischen 1991 und 1992 bereits 21 Attacken. In Kaschmir müssen nach Aussage von Medizinern mittlerweile jedes Jahr sogar Dutzende von Menschen, die Opfer von Schwarzbären geworden sind, ärztlich versorgt werden. In China schrieb ein Schwarzbär indirekt sogar Medizingeschichte: Der aggressive Bär hatte 2005 in der Provinz Yunnan bei einem Angriff auf einen Jäger diesen mit seinen Krallen im Gesicht derart entstellt, dass das Opfer einer Gesichtstransplantation unterzogen werden musste – der ersten überhaupt in China und der zweiten weltweit.
    Die den Schwarzbären sehr ähnlichen, aber nicht mit ihnen verwandten Lippenbären sind eigentlich von Natur aus friedliche Gesellen. Dummerweise sind die Bären, die fast ausschließlich in den Ländern des indischen Subkontinents zu Hause sind, nur mit einem äußerst mäßigen Gesichts- und Gehörsinn ausgestattet. Und da Lippenbären zudem noch einen sehr tiefen Schlaf haben, bemerken sie sich nähernde Menschen erst im letzten Augenblick, sodass es für eine Flucht meist zu spät ist. So in eine Konfrontation mit dem vermeintlichen Störenfried hineingezwungen, reagieren die Bären auf die vermeintliche Gefahr aus nächster Nähe äußerst aggressiv und können in Sekundenschnelle für den Menschen zu einer tödlichen Bedrohung werden. Die verärgerten Bären richten sich blitzartig auf ihre Hinterbeine auf und schlagen mit ihren krallenbewehrten Pranken ganz gezielt und sehr effektiv nach dem Gesicht des Störenfrieds. Die riesigen, sichelförmigen Krallen dieser Pranken erinnern an die Krallen eines Faultiers, was dem Lippenbären im Englischen den Namen Sloth Bear (»Faultierbär«) eingebracht hat. Klar, dass Bären mit solchen Krallen fürchterliche Wunden schlagen können. Menschen, die die Attacken eines Lippenbären überlebten, wurden meist im Gesicht grässlich verstümmelt. Üblicherweise verloren die Opfer ein oder sogar beide Augen. Anderen wurde die ganze Nase abgerissen oder die kompletten Wangen zerbissen.
    Fatale Begegnungen zwischen Menschen und Lippenbären sind nicht gerade selten. Im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh wurden nach Aufzeichnungen der zuständigen Forstbehörden allein zwischen April 1989 und März 1994 insgesamt 735 Menschen von Lippenbären angegriffen und verletzt – 48 davon tödlich. Auch im Bundesstaat Chhattisgarh wurden zwischen April 1998 und Dezember 2000 137 Lippenbärattacken registriert, von denen immerhin elf tödlich endeten. Die meisten Angriffe fanden in Küchengärten, Getreidefeldern oder angrenzenden Wäldern statt. Kein Wunder also, dass in einigen Gegenden Indiens die Menschen Lippenbären mehr fürchten als alle anderen Raubtiere.
    Eine Meinung, die übrigens auch Experten teilen. So schreibt der berühmte Naturforscher und exzellente Kenner der indischen Fauna Sir Robert Armitage Sterndale (1839–1902) in seinem Buch Natural History of the Mammalia of India and Ceylon : »Blutige Zusammenstöße mit Lippenbären sind unglücklicherweise sehr häufig, das Opfer wird dabei oft schrecklich verstümmelt oder gar getötet, da der Bär meist Kopf und Gesicht angreift. Blanford neigte dazu Lippenbären als gefährlicher als Tiger einzustufen.« Ins gleiche Horn blies der Großwildjäger und spätere US -Präsident Theodore Roosevelt, der, wie er in seinen Jagdmemoiren schreibt, Lippenbären sogar »für noch gefährlicher als Pumas« hielt.
    Zu trauriger Berühmtheit brachte es der sogenannte Lippenbär von Myosore, ein offensichtlich außer Rand und Band geratener Lippenbär, der im Alleingang zwölf Menschen getötet und weitere zwei Dutzend verstümmelt hatte, bevor er von dem britisch-indischen Großwildjäger Kenneth Anderson nach monatelanger Jagd zur Strecke gebracht wurde.
    Die Gründe für das ungewöhnlich aggressive Verhalten des Killer-Lippenbären liegen im Dunkeln. Auch Anderson fand in seiner 1957 erschienenen Biografie Maneaters and Jungle Killers keine rechte Erklärung, warum der Lippenbär von Myosore zum Serienkiller mutiert war, und schrieb daher lapidar, wenn auch prosaisch: »Lippenbären sind in der Regel reizbare, aber eigentlich harmlose Kreaturen. Dieser besondere Bär trug jedoch das Kainsmal, weil er mutwillig und vorsätzlich zum Mörder mehrerer Menschen geworden war, die er, ohne provoziert zu werden, auf die grausamste Art und Weise getötet hatte.«
    In den Dörfern der Eingeborenen zirkulierten dagegen zwei ziemlich unwahrscheinliche, aber dafür sehr menschliche

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