Faszination Menschenfresser
wie »Moby Dick« – der weiße Wal aus Herman Melvilles 1851 erschienenem gleichnamigem Epos, das zu Recht als einer der berühmtesten und anspruchsvollsten Romane der amerikanischen Literatur gilt.
Melvilles Geschichte von der schicksalhaften Fahrt des Walfangschiffes Pequod , dessen Kapitän Ahab mit blindem Hass einen weißen Pottwal jagt, beginnt auf der Walfängerinsel Nantucket: Als der junge Seemann Ismael und sein Freund, der Harpunier Queequeg, ein über und über tätowierter Südseeinsulaner, dort anheuern, wissen sie noch nicht, auf was sie sich einlassen. Ahab, der wahnsinnige Kapitän der Pequod , ist nämlich nur von einem einzigen Gedanken beseelt: Moby Dick, der schneeweiße Pottwal, groß wie ein Berg und brandgefährlich, muss sterben, denn dieser weiße Wal hat Ahab vor Jahren ein Bein abgerissen und damit sein Leben zerstört. So beginnt eine maritime Höllenfahrt, an deren Ende Ahab vom Jäger zum Gejagten wird und sein Schiff mit Mann und Maus ins Verderben führt. Moby Dick rammt schließlich die Pequod und reißt sie in die Tiefe. Lediglich Ismael, der sich an Queequegs Sarg klammert, überlebt den wahrhaft apokalyptischen Angriff des riesigen Meeressäugers und kann so später die Geschichte von Moby Dick erzählen.
Was ist in der Vergangenheit nicht alles in die Geschichte von Moby Dick hineininterpretiert worden! Meist wird im weißen Wal ein Symbol für das Böse gesehen, das am Ende den Sieg davonträgt. Aber auch das Gegenteil ist möglich: der riesige weiße Wal als Symbol des Guten, des Göttlichen, an dem Kapitän Ahab sich versündigt und der deshalb zum Untergang verurteilt wird. So mancher Kritiker behauptet, dass dieser große Roman, der ganz nebenbei eine präzise Beschreibung des Walfangs des 19. Jahrhunderts mit all seinen Gefahren und Härten liefert, ebenso viele Interpretationen zulässt, wie er Leser hat. Was jedoch die wenigsten Menschen wissen: Für die literarische Figur Moby Dick hat es ein real existierendes Vorbild gegeben, das Melville zu seinem Roman inspiriert hat: »Mocha Dick«, den Schrecken aller Walfänger.
1839 publizierte der Marineoffizier Jeremiah Reynolds im New Yorker Knickerbocker Magazine den Artikel »Mocha Dick: or The White Whale of the Pacific«, in dem er über den Fang eines riesigen weißen Pottwales berichtete, der wegen seiner zahlreichen Attacken auf Schiffe und ihre Besatzungen unter Walfängern berüchtigt war. Der ungewöhnliche Name des Pottwales lässt sich leicht erklären. Zur damaligen Zeit war es unter Walfängern üblich, Kampfwale, sprich Walbullen, die sich gegen ihre Verfolger aggressiv zur Wehr setzten, mit Namen zu belegen, die zum einen auf ihren vermeintlichen Aufenthaltsort hinwiesen und zum anderen einen ganz gewöhnlichen Vornamen wie Bill, Jack oder Dick enthielten. Mocha Dick z. B. bekam seinen Namen, weil er oft in der Nähe der chilenischen Insel Mocha gesichtet wurde. Und so gab es neben den Walen »Timor Jack« und »New Zealand Tom« eben auch »Mocha Dick«. Oder, wie es Melville etwas prosaischer schrieb: »Jeder dieser berüchtigten Wale stand nicht nur in dem Ruf einer meerweiten individuellen Eigenheit, er war nicht nur zu seinen Lebzeiten berühmt und lebte nach seinem Tode in den Schauergeschichten der Mannschaften weiter, er genoss auch alle Rechte, Vorrechte und Auszeichnungen, die sich an einen großen Namen, wie an den des Kambyses oder Caesar, knüpften.«
Erstmals trat Mocha Dick 1810 vor der chilenischen Küste in Erscheinung: ein riesiger weißer Pottwal von ganz außergewöhnlichem Aussehen. Nach Augenzeugenberichten soll die Haut von Mocha Dick nämlich derart stark von Seepocken befallen gewesen sein, dass der Wal auf den ersten Blick wie ein riesiger zerklüfteter Felsen aussah. Reynolds beschrieb den »stämmigen Gentleman der Meere« bzw. den »Terror des Pazifiks« etwas politisch unkorrekt: »Das wohlbekannte Monster, das mehr als hundert Schlachten mit seinen Verfolgern siegreich überstanden hat, war ein alter Bulle von überragender Größe und Stärke. Entweder altersbedingt oder aus einer Laune der Natur heraus war der Wal weiß wie Wolle, ähnlich wie das bei einem äthiopischen Albino der Fall ist.«
Sein ungewöhnliches Aussehen, seine Aggressivität und die Tatsache, dass er bereits zu Anfang seiner Karriere als »Monster der Meere« gleich mehrere Schlachten mit Walfängern überlebt hatte, verhalfen Mocha Dick bald zu Kultstatus – und das nicht nur unter den Besatzungen
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