Faszination Menschenfresser
lebenden Spielzeugs überdrüssig geworden waren, einfach über die Toilette in die Kanalisation entsorgt hätten. Andere Exemplare der gepanzerten Migranten, die nach einigen Jahren Wohnungshaltung für jedes Terrarium zu groß geworden waren, wären in den Parks der Stadt ausgesetzt worden und hätten dann ebenfalls in der Kanalisation der Weltstadt ein neues Zuhause gefunden. Dort hätten die Reptilien sich an Ratten bzw. Hundeleichen derart gütlich getan, dass sie sich in wenigen Jahren sprunghaft vermehrt hätten. Im Laufe der Zeit hätten die unterirdisch lebenden Panzerechsen aufgrund der im Abwassersystem herrschenden Dunkelheit ihre Farbe und ihr Augenlicht verloren und kröchen jetzt als blinde Albinos durch New Yorks Unterwelt. Ab und an würde den Reptilien auch der eine oder andere unvorsichtige Kanalarbeiter zum Opfer fallen. Solche Vorkommnisse vertuschten allerdings die Behörden der Weltstadt mit schöner Regelmäßigkeit.
Da stellt sich natürlich die Frage, was an der Geschichte von der Krokodilpopulation im Untergrund der Millionenmetropole dran ist. Machen wirklich riesige Krokodile die Kanalisation New Yorks unsicher, oder ist das alles nur ein von der stets hungrigen Sensationspresse befeuerter Großstadtmythos? Da es immer relativ schwierig ist, die Nichtexistenz von etwas zu beweisen – immerhin sind die New Yorker Kanäle insgesamt etwa 10 000 Kilometer lang – , lassen Sie uns mal nach möglichen Beweisen suchen, dass sich tatsächlich Alligatoren in den unterirdischen Abwasserkanälen New Yorks herumtreiben. Von Kanalisationskrokodil-Gläubigen wird als Beweis für die Existenz einer Krokodilpopulation im Kanalsystem gerne ein im Jahr 1959 erschienenes Buch des amerikanischen Romanschriftstellers Robert Daley zitiert, der vor seiner Karriere als Schriftsteller stellvertretender Polizeichef des New York City Police Department ( NYPD ) war. In The World Beneath the City befasst sich nämlich auch ein Kapitel mit den angeblichen Kanalisationskrokodilen, in dem Daley den früheren Superintendent der New Yorker Abwasserbehörde, Teddy May, zu Wort kommen lässt. May zufolge hätten Kanalinspektoren die ersten Alligatoren bereits 1935 im New Yorker Untergrund entdeckt. Er selbst habe die Berichte seiner Mitarbeiter zunächst als Gruselstorys abgetan, bis er die bis zu drei Meter langen Alligatoren während einer Inspektionstour wenig später mit eigenen Augen gesehen habe. May blies daraufhin zur unterirdischen Großwildjagd und befahl seinen Arbeitern, den Kanalisationskrokodilen mit Gewehren und Rattengift auf den schuppigen Panzer zu rücken. Offenbar war die unterirdische Krokodiljagd von Erfolg gekrönt, denn ab dem Jahr 1937 seien dann keine Alligatoren mehr im New Yorker Kanalisationssystem gesichtet worden. An der Glaubwürdigkeit von May, der zum Zeitpunkt des Interviews bereits 84 Jahre alt war, wird heute stark gezweifelt. Mays Geschichte hat nämlich einige kleine Schönheitsfehler. So ist zum Beispiel bereits der Status, den Teddy May in der New Yorker »Kanalisationshierarchie« innehatte, äußerst umstritten: Während May sich selbst bei seinen Erzählungen immer als ehemaligen Superintendent der Kanalisationsbetriebe bezeichnet hat, erinnern sich andere ehemalige Kanalisationsbeamte nur an einen einfachen Arbeiter, bestenfalls Vorarbeiter namens Teddy May. Und Jan Harold Brunvand von der University of Utah, Amerikas führender »Urban-Legends«-Forscher, kam nach umfangreichen Recherchen in Sachen Kanalisationskrokodile zu dem Schluss, dass May, um es vorsichtig auszudrücken, einfach nur ein begnadeter Geschichtenerzähler mit einem Hang zu außergewöhnlichen Storys gewesen war.
Und was sagt die Wissenschaft zu der Möglichkeit, dass Krokodile in der New Yorker Kanalisation hausen? Die meisten Reptilienkundler halten es gleich aus mehreren Gründen für unmöglich, dass Alligatoren über einen längeren Zeitraum in der New Yorker Kanalisation überleben können. Zum einen bevorzugen Krokodile nämlich warme Gebiete und scheuen Kälte und kaltes Wasser. Alligatoren und Kaimane können zwar Kälte deutlich besser vertragen als z. B. Nil- oder Leistenkrokodile. Aber fünf Monate New Yorker Winter, das hält selbst der stärkste Alligator nicht aus. Zum anderen sind Krokodile in erster Linie Fleisch- und keine Aasfresser, und außer Ratten gibt es in der Kanalisation kaum etwas, womit die großen Echsen auf Dauer ihren Appetit stillen könnten. Nicht gerade förderlich für
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