Faszination Menschenfresser
die Gesundheit unterirdisch lebender Panzerechsen ist auch der im Untergrund herrschende permanente Mangel an Sonnenlicht, das die Reptilien nicht nur brauchen, um sich aufzuwärmen, sondern auch, um in ihrer Haut das für die Knochenbildung so wichtige Vitamin D zu bilden. Ohne Vitamin D könnten die Krokodile nämlich kein Kalzium aus dem Darm aufnehmen und in ihr Skelett einlagern. Die Folgeerscheinungen wären für die Echsen äußerst unangenehm, eine schmerzhafte Knochenerweichung, die zu Muskelschwächen, Skelettdeformationen und damit letztendlich zum Tod führen würde. Intime Kenner der New Yorker Kanalisation nennen noch einen vierten Grund, warum ein Alligator auf keinen Fall im Kanalsystem der Millionenmetropole überleben kann: Das Kanalisationswasser ist so mit Schadstoffen belastet, dass die Echsen darin innerhalb kürzester Zeit zugrunde gehen würden. Übrigens: Erkundigt man sich heute beim für die New Yorker Kanalisation zuständigen Department of Environmental Protection nach den Untergrundalligatoren, bekommt man stets zu hören, dass in den unterirdischen Kanälen der Metropole zwar durchaus eine ganze Menge seltsamer Dinge auftauchen würde, darunter wären aber niemals Alligatoren. Eine Tatsache, die die New Yorker Behörde aber keineswegs davon abhält, mit großem Erfolg in ihrem Geschenkshop T-Shirts zu verkaufen, auf denen unter dem Slogan »Die Legende lebt!« ein fröhlicher Kanalisationsalligator abgebildet ist.
Entstanden ist der Großstadtmythos oder die »urban legend« vom Krokodil in der Kanalisation vermutlich 1935 in New York.Am 10. Februar desselben Jahres veröffentlichte nämlich die renommierte New York Times eine Geschichte, wonach einige Jugendliche, als sie gerade im Stadtteil Harlem Schnee in ein Gully schaufelten, einen zweieinhalb Meter großen Alligator entdeckten, der offensichtlich in der Kanalisation sein Dasein fristete. Nachdem die Kids die Echse mit einer zum Lasso umfunktionierten Wäscheleine (!) an die Erdoberfläche gezogen hatten, bekamen sie offensichtlich Angst vor der eigenen Courage und erschlugen das wild um sich schnappende Tier mit ihren Schneeschaufeln. Woher der Alligator stammte, wird wohl immer ein Geheimnis des Reptils bleiben. Damals zirkulierenden Gerüchten zufolge soll die Echse, die angeblich auf einem aus Florida kommenden Dampfer als blinder Passagier mitgereist war, in New York in den eisigen East River gesprungen sein, um dann letztendlich in der Kanalisation der Millionenstadt Zuflucht zu suchen.
Interessanterweise war der »Harlem-Alligator« nicht das einzige Krokodil, das in New York auf offener Straße angetroffen wurde. Insgesamt über 15-mal berichtete die New York Times in den letzten 100 Jahren über Alligatoren, Krokodile oder Kaimane, die sich in und um New York herumgetrieben haben – allerdings war nur der Alligator aus dem Jahr 1935 direkt in der Kanalisation gesichtet worden.
Auch in jüngerer Zeit gab es immer wieder Krokodilfunde in diversen New Yorker Stadtteilen. So sorgte im Juni 2001 »Damon the caiman« für Furore, ein rund 70 Zentimeter großer Kaiman, der von Reptilienexperten vor laufenden Fernsehkameras lebend aus einem See im Central Park gefischt wurde und heute in einem Zoo in Florida zu Hause ist. Im November 2006 wurde ein 60 Zentimeter langer Kaiman vor einem Apartmentgebäude in Brooklyn eingefangen. Nach Angaben von Polizisten »zischte er und schnappte nachihnen«. 2010 war dann der Stadtteil Queens an der Reihe, wo ein ebenfalls nur 70 Zentimeter großer Alligator unter einem parkenden Auto entdeckt wurde. Übrigens: Anders als bei unsin Deutschland ist es Privatleuten in New York per Gesetz verboten, Krokodile zu halten. Aber »Stadtkrokodile« gibt es nicht nur in New York. 1984 wurde in der Kanalisation von Paris direkt unter dem Quai de la Mégisserie ein etwa einen Meter großes Nilkrokodil unbekannter Herkunft gefangen. Heute lebt Eleanore – stattliche drei Meter groß und 250 Kilogramm schwer – im Aquarium du Golfe du Morbihan in Vannes in der Bretagne.
Auf die Spitze getrieben hat den Mythos vom Kanalkrokodil übrigens der amerikanische Tierhorrorfilm Alligator aus dem Jahr 1980: Im Film kauft ein kleines Mädchen während eines Floridaurlaubs ein Alligatorenbaby, das jedoch zu Hause in Chicago von ihrem Vater die Toilette hinuntergespült wird und so in die städtische Kanalisation gelangt. Dort mutiert das Reptilienbaby durch den Verzehr von mit Wachstumshormonen kontaminierten
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