Faszinierend wie der Kuss des Herzogs
dann etwas mehr erzählen.“
Impulsiv küsste sie ihn auf die Wange und eilte davon.
Im Widerschein eines weiteren Feuerwerks sah sie, dass sie beobachtet wurden. Edward stand am Fenster des Speiseraums, seine Miene glich dem Gesicht einer römischen Marmorstatue.
Sekundenlang starrten sie sich an, bis er ihr den Rücken kehrte. Clio fröstelte plötzlich. Sie eilte ins Haus und zog ihren indischen Schal fester um die nackten Schultern, doch der dünne Stoff konnte die Kälte nicht abwehren, die unaufhaltsam in ihr Leben kroch.
Rastlos wanderte Clio in ihrem Schlafzimmer umher. Auf dem Schreibtisch lagen geöffnete Bücher über die Punischen Kriege neben einem neuen Band über spätes hellenistisches Silber.
Doch sie konnte sich nicht auf ihre Studien konzentrieren. Ihre Gedanken überschlugen sich, ihr Puls raste. Irgendetwas musste sie tun, endlich die Initiative ergreifen. Schließlich blieb sie am Fenster stehen und betrachtete die Dächer von Santa Lucia. Alles schien zu schlafen. Was mochte sich unter dieser ruhigen Oberfläche verbergen?
Im Palazzo Picini herrschte nächtliches Dunkel. Nur hinter einem einzigen Fenster brannte Licht. War der Duke noch wach?
Mit einem tiefen Atemzug versuchte sie ihre Nerven zu besänftigen. Sie zwang sich zur Ruhe und dachte nach.
Wo mochte sich das Silber befinden? Woher stammte es? Und wer suchte so verzweifelt danach? Welche Bedeutung verband sich damit? Sie starrte das ferne beleuchtete Fenster an. Auf Sizilien hielten sich zahlreiche Engländer auf – auch viele Sammler, die einander zu übertrumpfen suchten. Sicher würde sich jeder für seltenes Tempelsilber begeistern.
In der Vergangenheit hatte auch sie den Duke of Averton für einen dieser übereifrigen, habgierigen Sammler gehalten, die nicht darauf achteten, auf welche Weise die Objekte in ihren Besitz gelangten.
Dann hatte sie herausgefunden, dass seine Rolle eines unersättlichen Sammlers nur eine Tarnung war. In Wirklichkeit arbeitete er für die respektable Antiquities Society, die sein Vater, ein anerkannter Wissenschaftler, zusammen mit Gleichgesinnten gegründet hatte. Edwards Aufgabe war es gewesen, der Liliendiebin Einhalt zu gebieten. Dieses Ziel hatte er erreicht, mit der unwissentlichen Hilfe ihrer Schwester Calliope.
Was führte er jetzt im Schilde? Jagte er die Diebe? Oder war er selber ein Dieb? Nachdenklich runzelte sie die Stirn. Giacomo und die andere maskierte Person hatten von einer Schale gesprochen. Wenn sie die finden könnte …
Sie erschauerte in ihrem dünnen Musselinnachthemd und überdachte ihre Möglichkeiten. Natürlich konnte sie Giacomo zur Rede stellen und zur Loyalität gegenüber seinen Eltern und seiner Heimat auffordern. Wenn sie ihn aufspürte – und wenn er sie nicht mit seinem Jagdmesser erstach … Diese tombaroli waren unberechenbar. Auch wenn sie mit Dolchen und Pistolen umzugehen wusste – einem solchen Mann wäre sie nicht gewachsen.
Sollte sie Rosa und Paolo fragen, was sie wussten? Doch sie würden ihr wohl kaum die Wahrheit über die Aktivitäten ihres Sohnes erzählen – und ihn womöglich vor ihr warnen.
Natürlich konnte sie auch Edward mit ihrem Verdacht konfrontieren. Doch er war ein noch besserer Schauspieler als Marco. Indem er den verwöhnten, exzentrischen Duke und Sammler spielte, hielt er jeden zum Narren. Auch mich …
Nein, sie musste diese Schale finden. Falls sich das Gefäß in Edwards Palazzo befand, würde sie die erforderlichen Maßnahmen ergreifen. Und wenn nicht, musste sie einen anderen Plan schmieden.
Zum letzten Mal würde die Liliendiebin ins Leben zurückkehren. Bei diesem Gedanken verspürte Clio einen bitteren Schmerz in ihrer Brust. Sie hatte Calliope versprochen, nie wieder ein antikes Kunstwerk zu entwenden. Aber diese neue Situation ließ ihr keine Wahl. Nur die Schale würde sie mitnehmen, weil sie einen Beweis brauchte. Sonst nichts.
Obwohl sie ihre Absicht mit diesem Argument rechtfertigte, zitterte sie vor Angst. In der stillen Stadt da draußen geschah irgendetwas, das unter der harmlosen Oberfläche brodelte. Und sie musste herausfinden, was das war.
15. KAPITEL
„Gehen wir heute Abend auf die Walzerparty bei den Manning-Smythes?“, fragte Thalia am Frühstückstisch, während sie in mehreren Einladungskarten blätterte.
„Hm?“, murmelte Clio geistesabwesend. Neben ihrem Teller lag ein aufgeschlagenes Buch. Bisher hatte sie nur ein paar Zeilen gelesen. Und nichts lag ihr ferner als der Gedanke an
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