Faszinierend wie der Kuss des Herzogs
der Kunst und der Geschichte würde ihnen nicht im Weg stehen, ebenso wenig ein Menschenleben.
Mittlerweile verstand sie, warum er sie belogen und eingesperrt hatte. Er wollte sie schützen – und jetzt musste sie sich um ihn sorgen, ein schreckliches Gefühl, das bleischwer auf ihrer Seele lag. Beim Dinner hatte sie ihre ganze Willenskraft aufbieten müssen, um ihrem Vater zuzuhören, Corys Skizzen zu begutachten und den Anschein zu erwecken, alles wäre in Ordnung.
Ist das Liebe? Diese Angst, diese innere Leere, wenn der Geliebte sich nicht mehr im Blickfeld befindet?
Und wie würde sie diese qualvolle Sorge überstehen?
„O Edward“, wisperte sie, „was tust du mir an?“
Während sie zur Straße hinabschaute, bemerkte sie eine Bewegung in den Schatten. Sie wich vom Fenster zurück und ergriff einen Dolch, der auf einem Tisch in ihrer Nähe lag. In ihrer Brust verstärkte sich die Anspannung. Die Waffe zwischen den Falten ihres Rocks verborgen, spähte sie wieder hinaus. Jetzt sah sie eine schemenhafte, hochgewachsene Gestalt in einem dunklen Umhang mit einer Kapuze. Ein Dieb? Oder einer der verdammten Geister?
„Clio“, erklang eine Stimme, so vertraut wie ihre eigene.
„Edward!“ Ihre Finger, die den Dolchgriff umklammerten, lockerten sich, und sie lächelte erleichtert. Sicher würde sich alles zum Guten wenden, wenn sie den Feind gemeinsam bekämpften. „Warum schleichst du so verstohlen hierher?“
Er trat näher zu der Mauer unterhalb ihres Fensters und streifte sich die Kapuze vom Kopf. Nun fiel schwaches Lampenlicht auf sein blondes Haar. „Ich dachte, dein Vater würde es nicht schätzen, wenn ich der Familie Chase nach Mitternacht einen Besuch abstatte.“
„Vermutlich nicht“, stimmte sie belustigt zu. „Wenn er dich auch mag, er legt großen Wert auf seinen ungestörten Schlaf. Geh nicht weg, ich komme hinunter.“ Hastig legte sie den Dolch beiseite, schlang einen schwarzen Schal um ihre Schultern und stieg lautlos die Treppe hinab.
Im Haus war es still. Nur durch die geschlossene Salontür drangen gedämpfte Klavierklänge. Also konnte auch Thalia nicht schlafen. Stattdessen ergoss sie ihre verborgenen Emotionen in eine Beethovensonate.
Clio huschte in die Nacht hinaus und eilte zu der Seite des Hauses, wo sie Edward gesehen hatte. Doch er ließ sich nicht blicken. Hatte sie sich das Gespräch mit ihm nur eingebildet? Verwirrt starrte sie in die Finsternis. Da wurde sie von einem kraftvollen Arm umfangen und zur Mauer gezogen, ein heißer Kuss erstickte ihren leisen Schreckensschrei. Edwards Lippen …
Mit gleicher Glut erwiderte sie den Kuss. Leidenschaftlich umarmten sie einander, als hätten sie sich vor einem Jahr und nicht erst am Vortag getrennt.
„So sehr habe ich dich vermisst“, flüsterte er an ihrem Mund.
„Und ich dich – und unsere Jagdhütte. Das Bett in meinem Zimmer sieht so leer und kalt aus …“
„Erinnere mich nicht daran “, stöhnte er. „Hätte ich dich bloß länger gefangen gehalten!“
„Das durftest du nicht. Würden wir wochenlang in unserer Grotte baden, könnten die Schurken entkommen.“ Liebevoll hauchte sie einen Kuss auf seine Lippen. „Sobald das Silber gefunden ist, solltest du mich wieder entführen.“
Edward lachte. „Was für eine gute Idee! Hoffentlich vergisst du deinen Ratschlag nicht, wenn es so weit ist. Hast du mit deiner Schwester gesprochen?“
„Ja, wie ich’s voraussah, ist sie Feuer und Flamme für unser Abenteuer. Ebenso wie Marco wird sie uns helfen. Morgen verschicke ich die Einladungen zu unserer kleinen Theateraufführung. Sicher werden alle kommen. Thalia hat mir erzählt, Lady Riverton gebe keine Partys mehr. Also müssten sich die Leute auf eine amüsante Abwechslung freuen.“
„Alle?“
„Die Elliotts, die Manning-Smythes, die englischen Touristen, Rosa und ihre große Familie. Natürlich auch Lady Riverton und ihr getreuer Mr. Frobisher. Dieser Theaterabend soll das Ereignis dieser Saison werden. Mit einem fabelhaften Finale.“
„Nicht so fabelhaft wie das “, flüsterte er und küsste sie wieder.
„Hm …“ Hingebungsvoll schmiegte sie sich an ihn. „ So wunderbar kann gar nichts anderes sein.“
„Gehen wir in die Hütte zurück? Verstecken wir uns im Bett, bis alles vorbei ist?“
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Wie gern würde ich auf deinen Vorschlag eingehen, Edward … Aber wir müssen hierbleiben, bis das Silber gefunden ist.“
„Ausnahmsweise bist du vernünftig
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