Fatal - Roman
Bilder an. Es bestand kein Zweifel.
»Das darf doch nicht wahr sein«, rief sie aus. Oreo Figaro hob das Kinn; seine Augen waren nur noch kleine Schlitze, die in der schwarzen Masse seines Körpers verschwanden.
Ellen starrte auf den Bildschirm. Sie versuchte, sich zu beruhigen. Es war unmöglich, eine schwarz-weiße Bleistiftzeichnung mit dem Farbfoto eines Menschen aus Fleisch und Blut zu vergleichen. Ihr fiel Wills abgepaustes Pferd wieder ein. Das brachte sie auf eine Idee. Sie schaltete den Drucker ein, lief nach unten, durchsuchte Wills
Spielzeugkiste und kehrte mit einer Rolle Pauspapier in ihr Arbeitszimmer zurück.
Der Drucker hatte inzwischen eine Kopie der Phantomzeichnung ausgespuckt. Mit einem schwarzen Markierstift zog sie die Gesichtslinien des Entführers nach. Dann nahm sie ein Blatt Pauspapier und legte es auf die Phantomzeichnung. Das laute Pochen ihres Herzens versuchte sie zu ignorieren. Sie pauste das Gesicht des Mannes ab und legte das fertige Bild beiseite. Der Drucker hatte inzwischen auch das Strandfoto ausgedruckt. Sie schob die Computertastatur zur Seite und legte das ausgedruckte Foto auf den Schreibtisch.
Sie zögerte.
Einerseits wollte sie die Wahrheit erfahren, andererseits - vielleicht besser nicht?
»Bring es hinter dich«, flüsterte sie sich zu. Sie nahm das abgepauste Phantombild des Entführers und legte es auf das Gesicht von Amys Begleiter.
Die Gesichtszüge passten haargenau aufeinander.
Ellen wurde übel, sie sprang auf und stürzte ins Badezimmer.
33
Gedankenverloren ging Ellen vor Wills Zimmer auf und ab. Bei dem, was sie herausgefunden hatte - oder glaubte, herausgefunden zu haben -, war heute Nacht an Arbeiten nicht mehr zu denken. Sie wäre froh gewesen, diese Entdeckung nicht gemacht zu haben. Doch jetzt war es zu spät.
War Will tatsächlich Timothy?
Ihre Brust zog sich zusammen. Vor dem Türpfosten ließ sie sich zu Boden sinken. Sie versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, wollte alles noch einmal durchdenken. Vielleicht war irgendwo ein Denkfehler?
Und vor allem: Ruhe bewahren!
Sie spielte das Szenario noch einmal durch. Wenn der Mann auf dem Phantombild derselbe war wie der Mann auf dem Strandfoto, dann hatte Amys Begleiter den Mercedes gestohlen. Er hatte auch das Kindermädchen der Bravermans erschossen, Will entführt, das Lösegeld einkassiert, das Kind aber nie zurückgegeben. Seine Freundin hatte sich als Mutter dieses Kindes ausgegeben. Diese Freundin war Amy Martin.
Aber warum hatten sie das Kind nach der Zahlung des Lösegelds nicht zurückgegeben oder getötet?
Darauf gab es zwei mögliche Antworten. Bei beiden lief es Ellen kalt den Rücken herunter: Das Paar wollte das Kind auf dem Schwarzmarkt verkaufen, oder Amy wollte das Baby behalten, weil sie selbst keine Kinder bekommen konnte. Ellen verschränkte die Arme vor der Brust.
Warum gaben sie es dann zur Adoption frei?
Die Antwort war einfach: Das Kind wurde krank. Will hatte eine Herzkrankheit, von der niemand etwas geahnt hatte. Schließlich stand auch nichts davon auf der Website der Bravermans. Die Ärzte vom Dupont-Krankenhaus hatten ihr erzählt, dass Herzprobleme oft unentdeckt blieben. Will war kraftlos gewesen, er hatte vielleicht keinen Appetit gehabt, war immer blass und schwächlich geblieben. Das hatte Amy vielleicht überfordert - wie ihre Mutter schon vermutet hatte. Wenn sie aber von der Herzkrankheit
wussten, wäre es zu riskant für sie gewesen, Will zu behalten. Bei den vielen Bluttests und Fragen der Ärzte wäre ihre erfundene Elternschaft bald aufgeflogen.
Was unternahmen sie also als Nächstes?
Ellen träumte den Albtraum weiter: Sie bringen das Baby in ein Krankenhaus weit weg von Miami. Bei einem Hospital in der Stadt, in der Amy aufgewachsen ist, geben sie das Kind ab. Dann kommt eine nette Journalistin vorbei, die sich in den kleinen Jungen verliebt. Die Lösung ist gefunden! Denn die nette Dame adoptiert das Kind und nimmt es mit zu sich nach Hause, wo es gerade unter einem Himmel aus Papiersternen schläft.
So kann es gewesen sein.
Ellens Blick wanderte über die Legosteine, Spielzeugeisenbahnen, Teddybären und Plüschhasen in Wills Schlafzimmer. Ihre bunten Farben waren in der Dunkelheit kaum zu erahnen. Die Jalousie war hochgezogen. Draußen war der Himmel eigentümlicherweise klar, obwohl es schneite. Die Flocken bedeckten das Haus mit einer dicken weißen Schutzschicht, damit Will und ihr nichts passierte.
»Mama?«
Ellen rieb sich die
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