Fatal - Roman
durchdenken. Rein hypothetisch. Für eine gültige Adoption muss die Mutter nur eine Geburtsurkunde vorlegen, die äußerst leicht zu fälschen ist. Im Gegensatz zu einem Pass oder Führerschein enthält sie nicht einmal ein Foto.« Ron zupfte sich wieder am Bart. »Außerdem muss sie eine Verzichtserklärung auf ihre elterlichen Rechte unterzeichnen, der leibliche Vater ebenso. Auch die lässt sich leicht fälschen, den Namen des Vaters kann sie sich sogar ausdenken. Es gibt viele Fälle, bei denen Mütter ihre Kinder ohne die Zustimmung des Vaters zur Adoption freigegeben haben. Das kommt häufig vor.«
Ellen fiel das Backsteingebäude ein, in dem Charles Cartmell angeblich wohnte. Dieser Charles Cartmell, den niemand kannte und den es nicht gab.
»Die zweite Frage lautet: Was sind deine elterlichen Rechte, falls du überhaupt welche hast? Was sind die elterlichen Rechte der Bravermans, falls sie überhaupt welche haben? Das ist die Frage, die dir eine Höllenangst einjagt. Habe ich recht?« Ron hielt inne. »Wenn Will Timothy ist, wer bekommt ihn dann?«
Ellen spürte eine unerträgliche Spannung.
»Ein interessantes Problem. Juristisch gesehen.«
Ellen riss der Geduldsfaden. »Sag mir doch einfach klipp und klar: Dürfte ich Will behalten, oder müsste ich ihn an die Bravermans zurückgeben?«
»Du müsstest ihn an die Bravermans zurückgeben. Keine Frage.«
Ellen fühlte sich geschlagen. Sollte sie weinen oder losbrüllen? Vor allem aber durfte sie die Nerven nicht verlieren, denn Will flog im Nebenraum gerade mit Judy Garland in das Land jenseits des Regenbogens, und eine Unterbrechung der Reise würde zu unabsehbaren Komplikationen führen.
»Die Bravermans als die leiblichen Eltern haben ein unanfechtbares Recht an ihrem Kind. Beide Elternteile leben und haben das Kind nicht zur Adoption freigegeben. Falls man ihr Kind gekidnappt hat, ist deine Adoption unwirksam. Deshalb würde das Gericht den Bravermans ihr Kind zurückgeben.«
»Und Will müsste fortan in Florida leben?«
»Wenn seine Eltern dort leben, ja.«
»Hätte ich das Recht, ihn zu besuchen?«
»Nein.« Ron schüttelte den Kopf. »Du hättest überhaupt keine Rechte. Die Bravermans könnten dir erlauben, ihn zu sehen, damit dir die Ablösung leichter fällt. Aber kein Gericht würde dir ein Besuchsrecht zusprechen.«
»Aber ich habe ihn legal adoptiert.« Ellen weinte fast.
»In unserer Hypothese hat ihn niemand zur Adoption freigegeben.« Ron spreizte die Finger. »Du erinnerst dich: Als du ihn adoptiert hast, lagen dem Gericht die unterzeichneten Einwilligungserklärungen von Mutter und Vater vor. Sie sind für jede Adoption unabdingbar. Wenn diese Papiere aber gefälscht sind, kannst du deinen Anspruch auf das Kind nicht aufrechterhalten. Egal ob du von dem Betrug wusstest oder nicht.«
Ellen hatte gestern Nacht im Internet recherchiert, um sich auf dieses Gespräch vorzubereiten. »Es gab den Fall
von Kimberley Mays in Florida, vielleicht kennst du ihn? Das Mädchen war nach der Geburt mit einem anderen verwechselt worden. Das Gericht sprach das Kind aber nicht den leiblichen, sondern seinen Pflegeeltern zu.«
»Ich kenne den Fall. Das ganze Land hat darüber geredet.«
»Könnte mir dieses Urteil helfen?«
»Nein, überhaupt nicht.« Ron winkte ab. »Das habe ich dir zu erklären versucht. Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen Adoptions- und Sorgerecht. Das Gericht in Florida hat nach dem Sorgerecht entschieden. Dem Urteil ging eine Untersuchung voraus, in der geklärt wurde, was für das Kind am besten ist. Das Gericht hat sich in diesem Fall nicht für die leiblichen Eltern entschieden.« Ron gestikulierte. »Aber bei dir handelt es sich um einen Adoptionsfall. Was für Will die beste Lösung ist, interessiert niemanden. Es ist wie bei den Müttern, die die Einwilligung des Vaters gefälscht haben.«
»Und wie wird in diesen Fällen entschieden?«
»Das Kind geht an den leiblichen Vater. Es ist sein Kind. Er hat es nicht zur Adoption freigegeben.«
»Und wenn Will zehn Jahre oder älter wäre? Käme er dann auch zu seinen leiblichen Eltern zurück?«
»Ja. Die Zeit ändert nichts daran, dass er entführt worden ist. Auch wenn du nichts davon gewusst hast.«
»Es spielt also keine Rolle, dass ich die einzige Mutter bin, die er kennt? Die andere hat er doch vergessen.« Ellen fand die rechtliche Lage inakzeptabel. »Mein Haus ist das einzige Zuhause, das er hat. Der Kindergarten, seine Freunde, die Nachbarn,
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