Fatal - Roman
- aus ihrem Elternhaus. Nun gab es für diese Bilder keinen Platz mehr; ihr Vater hatte einen Schlussstrich unter diesen Teil seines Lebens gezogen. Sie beschloss, bei sich zu Hause einen Platz für sie zu suchen.
Keine Mutter verdiente es, vergessen zu werden - und ihre erst recht nicht.
Sie wischte den Staub von den Rahmen. Mit Glasreiniger und Papierhandtüchern säuberte sie die Bilder. Ein Bündel Glückwunschkarten, das mit einem Gummiband zusammengehalten wurde, befand sich ebenfalls in der Schachtel. Sie nahm das Band ab. Eine Karte hatte ihr Vater an ihre Mutter geschrieben. Ein Gruß zu ihrem gemeinsamen vierzigsten Hochzeitstag. »In Liebe, Don« stand da, mehr nicht.
Sie lächelte. Das passte zu ihm. Ihr Vater war kein Freund großer Worte. Ihre Mutter hatte diese wortkarge Liebeserklärung sicherlich glücklich gemacht. Im letzten Umschlag steckte nur ein Blatt Papier, blassblau wie die Vergissmeinnicht in ihrem Garten: das Briefpapier ihrer Mutter.
Ellen wusste sofort, was das für ein Brief war. Sie hatte einen ähnlichen kurz vor ihrem Tod von ihr bekommen. »Für Don«, stand auf dem Umschlag. Der Brief war noch verschlossen. Mit den Fingerspitzen tastete sie den Umschlag ab. Nein, ihr Vater hatte den Brief nie geöffnet.
Ellen konnte es nicht glauben. Warum hatte er diesen Brief nicht geöffnet? Warum hatte er die letzten Worte, die seine Frau an ihn richtete, nicht lesen wollen? Ellen war völlig überrascht. Mit einem Fingernagel gelang es ihr, die Umschlagklappe zu lösen, und sie zog den Brief heraus. Er trug das verschnörkelte Monogramm ihrer Mutter, MEG. Sie faltete ihn auseinander. Da war sie wieder, die Handschrift ihrer Mutter.
Lieber Don,
ich weiß, dass Du mich immer geliebt hast. Auch wenn
ich mir Deiner Liebe nicht immer sicher gewesen war. Ich akzeptiere Dich, wie Du bist. Ich verstehe Dich und verzeihe Dir.
Ich werde Dich immer lieben,
Mary
Mit dem Brief in der Hand ging Ellen ins Esszimmer. Im Haus war es still. Oreo Figaro ließ sich nicht blicken. Die Fenster waren wie tintenschwarze Spiegel. Der Mond hatte sich hinter den Wolken versteckt. Sie glaubte, in einen schwarzen Trichter zu fallen. Alle Verbindungen zur Welt waren abgebrochen, selbst die zu Will, der oben in seinem Bett schlief. Sie schloss die Augen, den Brief behielt sie in der Hand. Er verband sie mit ihrer Mutter über Zeit und Raum hinweg. Jetzt wusste sie, was ihre Mutter ihr mit ihrer sanften Stimme geraten hätte. Im letzten Brief an Ellen hatte sie geschrieben:
Folge Deinem Herzen.
Jetzt, endlich, hier in diesem Haus, in dem sich nichts regte, beschloss sie, dem Ruf ihres Herzens zu folgen. Bereits in dem Augenblick, als der Flyer in der Post aufgetaucht war, hatte ihr Herz zu ihr gesprochen. Mochte ihr Vater ihre Besorgnis für verrückt halten - sie wusste es besser. Sie konnte sich nicht für den Rest ihres Lebens etwas vormachen. Es ging nicht an, dass sie sich wie eine Kriminelle fühlte, wenn ein Polizist sie um ihre Papiere bat. Sie konnte Will nicht vor Freunden und Nachbarn verstecken.
Es gab keinen Aufschub mehr.
40
Ellen betrat die Kanzlei und setzte sich. Um sie herum standen Pokale aus Bronze, Glas und Kristall, die der Rechtsanwalt gewonnen hatte. Sie hatte Ron Halpren bei ihrer Artikelserie über Wills Adoption kennengelernt. Damals hatte sie ihn als Experten für Familienrecht interviewt. Sie war froh, dass er sich so kurzfristig Zeit für sie genommen hatte.
»Vielen Dank, dass ich dich am Samstag besuchen darf«, sagte sie. Ron ging um seinen unordentlichen Schreibtisch herum, dann ließ er sich in einen knarrenden Sessel fallen.
»Kein Problem, ich bin fast jeden Samstagmorgen hier.« Hinter seiner Schildplattbrille blitzten helle Augen. Sein struppiges, leicht ergrautes Haar passte hervorragend zu seinem zottigen Silberbart. Er war klein und pummelig, in seinem gelben Fleecepullover und seinen abgewetzten Jeans sah er aus wie ein Zottelbär. »Der Kaffee ist uns leider ausgegangen. Ich wollte neuen kaufen, habe es aber vergessen.«
»Kein Problem und vielen Dank, dass ich Will mitbringen durfte.« Will saß draußen am Schreibtisch der Sekretärin, stopfte Feigenröllchen in sich hinein und sah sich auf dem Computer den Zauberer von Oz auf DVD an.
»Es ist ein Vergnügen, ihn so gesund zu sehen. Was für ein Unterschied zu früher!«
»Das stimmt.« Ellen rutschte auf dem Sessel nach vorn. »Das hier ist ein offizieller Termin. Ich werde dich also bezahlen.«
»Kommt
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