Fatal - Roman
Stimme nahm ihren Worten die Schärfe. »Ich zeige Ihnen alles, auch unseren Medienraum, inklusive Bibliothek.«
»Ihr Kindergarten hat eine Bibliothek?«
»Wir alle wissen, wie wichtig Bücher für Kinder sind. Und ohne unbescheiden zu sein darf ich sagen, dass wir der beste Kindergarten in Südflorida sind, vielleicht sogar der beste des ganzen Staates. Unsere Kinder kommen aus drei verschiedenen Countys. Wann ziehen Sie um?«
»Das wissen wir noch nicht genau.« Vom Flur gingen fünf Zimmer ab. Bei allen waren die Türen geschlossen. »Mein Sohn ist drei Jahre alt. Wir möchten die Formalitäten im Voraus klären.«
»Das ist auch in unserem Interesse.« Maura blieb bei der ersten Tür stehen. »Das ist unser Raum für die Zweijährigen, die später abgeholt werden. Wir lassen sie gern mit älteren Kindern zusammen spielen. Das hilft ihnen bei der Sozialisation. Vor allem, wenn die Kinder allein sind.«
»Allein?«
»Ich meine, wenn sie Einzelkinder sind.«
»Ich verstehe.« Ellen sah durch das Fenster in der Tür. Zwei Betreuerinnen brachten Kindern, die man in rote Kittel gesteckt hatte, das Fingermalen bei. Carol war nicht dabei.
»Wir nehmen übrigens nicht jedes Kind auf.«
»Oh, mein Sohn ist sehr talentiert.« Er kann schon Pferde abpausen.
Maura führte sie zur nächsten Tür. »Hier sind unsere Dreijährigen untergebracht.« Die Kinder schlugen auf Tamburine ein, zwei Erzieherinnen ermunterten sie. Wieder keine Carol. Maura wies zur nächsten Tür. »Dort sind unsere Vierjährigen.« Sie räusperte sich. »Die Kleinen haben gerade Französischunterricht.«
»Sie lernen wirklich Französisch?« Ellen sah durch das Fenster. Kinder und Lehrpersonal schienen très contents zu sein. Carol - Fehlanzeige.
»Man kann nicht früh genug mit dem Erlernen einer Fremdsprache anfangen. Für Kinder ist das nämlich ein Kinderspiel. Ich gebe Ihnen nachher unser Infomaterial mit. Darin können Sie nachlesen, wie die besten Privatschulen sich um unsere Zöglinge streiten.«
»Gehen wir jetzt zu den Fünfjährigen?«
»Was machen sie noch mal beruflich?«, fragte Maura. Ellen antwortete nicht. Die Fünfjährigen saßen auf kleinen
Stühlen und sahen in Bücher, die aufgeschlagen auf ihrem Schoß lagen. Keine Carol.
»Welche Sprache lernen diese Kinder?«
»Sie üben sich im Lesen. Übung macht den Meister.«
»Und wo ist der Medienraum?«
»Folgen Sie mir.« Maura führte sie den Flur entlang zu einer Doppeltür. »Jeden Tag bieten wir unseren Kindern am Nachmittag ein Spezialevent. Montags ist Geschichtentag, dienstags veranstalten wir wissenschaftliche Experimente …«
Ellen wollte nicht glauben, was sie da sah. Kinder saßen im Halbkreis zusammen und wiesen kichernd auf eine Betreuerin, die als Gans verkleidet war und ihnen vorlas. Die Gans trug einen weißen Tennisrock und weiß-rosafarbene Turnschuhe. Es war niemand anders als Carol Braverman.
»Wenn Geschichten auf dem Programm stehen, spielen wir sie unseren Kinder vor.«
»Ist das auch eine Kindergärtnerin?«
»Nein. Das ist eine Mutter. Früher war sie Schauspielerin.«
»Schauspielerin?«
»Ja. Carol Braverman ist ihr Name. Sie hat in Disneyworld als Schneewittchen gearbeitet.«
Schneewittchen - natürlich! »Ist ihr Kind in der Gruppe?«
»Nein. Carol liest Kindern gerne vor.« Maura zögerte. »Sie hat kein Kind in der Gruppe.«
Mit weiteren Fragen hätte Ellen ihr Inkognito in Gefahr gebracht. Deshalb sagte sie: »Das ist aber nett von ihr. Sicher bezahlen Sie sie gut dafür.«
»Keinen müden Cent nimmt sie dafür. Sie liebt Kinder. Das ist alles. Kommen Sie.« Maura fasste sie am Ellbogen und zog sie zur Seite. »Eine schreckliche Tragödie. Carols kleiner Sohn Timothy ist vor ein paar Jahren gekidnappt worden. Sie hat ihn nie zurückbekommen. Im ersten Jahr stand sie total neben sich. Depressionen. Aber dann hat sie sich am Riemen gerissen und beschlossen, dass Kinder für sie die beste Therapie sind.«
»Macht der Kontakt zu Kindern nicht alles noch viel schlimmer?«
»Wollen Sie wissen, was sie gesagt hat, als ich sie darauf angesprochen habe?«
Lieber nicht. »Ja, das interessiert mich.«
»Sie hat gesagt: ›Wenn ich unter Kindern bin, bekomme ich zumindest eine Ahnung davon, wie es sein könnte, wenn Timothy noch bei mir wäre.‹ Und dann: ›Ich bin bei jedem neuen Schritt in ihrem Leben dabei. Wenn Timothy zu mir zurückkommt, weiß ich genau, was er braucht.‹«
Ellen hätte am liebsten geweint. Nein, das wollte
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