Fatal - Roman
platzierte sich in der Mitte des Ganges, um Carol jederzeit im Blick zu haben, und nahm prüfend einen Apfel in die Hand. Doch gleich darauf merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Carol und ihr Einkaufswagen spielten verrückt. Plötzlich drehten sie sich um hundertachtzig Grad.
Oh, nein!
Was dann passierte, war nicht vorhersehbar gewesen. Carols Wagen fuhr direkt in ihren hinein; dieser stieß gegen die Apfel-Pyramide, und Fuji- und Gala-Äpfel stürzten in einer Lawine zu Boden.
»O nein!«, schrie Ellen laut.
»Es tut mir so leid!« Carol versuchte, die Äpfel aufzufangen, aber sie rollten auf den Boden und verteilten sich in alle Richtungen wie Billardkugeln.
»Um Gottes willen!« Ellen beugte sich nach unten, um ihr Gesicht zu verstecken, und sammelte Äpfel ein. Mit leicht geröteten Wangen und zwei Äpfeln in der Hand stand Carol vor ihr.
»Dass mir so etwas passieren muss. Entschuldigen Sie vielmals!«
»Halb so schlimm«, sagte Ellen und sah zu ihr hoch.
Carol hatte ihre Sonnenbrille abgenommen. Jetzt, da Ellen ihr direkt gegenüberstand, war ihre Ähnlichkeit mit Will unübersehbar. Sie hatte Wills meerblaue Augen, seine schmalen Lippen und sein dreieckiges Kinn. Carol und Will gehörten zusammen - daran konnte kein Zweifel bestehen. Die beiden waren blutsverwandt. Ellen senkte den Kopf, doch Carol kniete sich neben ihr hin, um in ihrem Tennisrock Äpfel einzusammeln.
»Es war meine Schuld. Das ist die Strafe dafür, dass ich mich so abgehetzt habe.«
»Nein, es war mein Fehler. Ich habe die Äpfel umgestoßen.« Ellen sah weiter zu Boden.
»Ich will beim Einkaufen immer alles auf einmal erledigen. Kennen Sie das?«
»Und ob.«
»Mrs Braverman, darf ich Ihnen helfen?«, fragte ein Lehrling. Er bückte sich und hob ein paar Äpfel auf. Seine Rasta-Locken fielen ihm ins Gesicht. Er trug einen grünen Arbeitskittel und karierte Slippers.
»Danke, Henrique.« Carol stand auf und wischte sich den Staub von ihren schlanken braunen Beinen. »Ich bin so ein Tollpatsch. Ich habe diese Frau mit meinem Einkaufswagen gerammt.«
»Mir ist wirklich nichts passiert.« Auch Ellen stand auf. Sie sah sich nach dem Ausgang um, als Carol plötzlich eine Hand auf ihren Arm legte.
»Es tut mir so leid.«
»Kein Problem.« Sie streifte vorsichtig Carols Hand
vom Arm und verließ so unauffällig wie möglich die Obstabteilung in Richtung Ausgang. Draußen war es noch heißer als vorher. Ellen ging geradewegs zu ihrem Wagen und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Tränen standen ihr in den Augen.
Sie starrte durch die Windschutzscheibe. In der Sonne von Miami schmorten die Autos vor sich hin. Am Rand des Parkplatzes warteten ausgetrocknete Blumentöpfe auf Wasser. All das sah sie, ohne es wirklich wahrzunehmen. Sie wischte sich die Tränen weg. Sie hatte Carol Braverman kennengelernt; eine Mutter, der man sehr wehgetan hatte. Sie schien nett zu sein. So nett wie Will, der wahrscheinlich zu Hause gerade mit Connie spielte, während seine Mutter ihn vermisste.
Ellen dachte an Susan Sulaman und Laticia Williams, an das schwere Schicksal, das sie zu tragen hatten. Carol ging es nicht anders. Sie drohte in einem Meer von Gewissensbissen unterzugehen. Wann hatte sie sich das letzte Mal so entsetzlich gefühlt?
Carol war Wills Mutter.
Sie trank einen Schluck von dem warmen, abgestandenen Mineralwasser. Eines Tages würde sie für all das büßen müssen.
Ein weißer Tennisrock wippte vorbei. Carol verließ das Geschäft. Sie stieg in ihren Wagen und fuhr weg.
Ellen folgte ihr wie in Trance.
48
Carol fuhr so schnell, dass Ellen aufpassen musste, sie bei dem starken Verkehr nicht aus den Augen zu verlieren. Sie versuchte trotzdem, ihre Gedanken zu ordnen. Ihre subjektive Überzeugung, dass Carol Wills Mutter war, genügte nicht. Sie brauchte einen handfesten Beweis. Ganz gleich, was das Herz ihr sagte.
Die beiden Wagen bahnten sich ihren Weg durch die überfüllte Innenstadt, Ellen immer drei Wagen hinter Carol. Sie durfte keineswegs weiter zurückfallen. Auf den Gehwegen tummelten sich Touristen in Freizeitkleidung. Aus einem Cabrio dröhnten laute Bassrhythmen. Ein schwarzer Mercedes kam auf der Spur neben ihr zum Stehen. Der Fahrer hatte eine Zigarre im Mund und grinste sie an.
Das Klingeln des Handys riss Ellen aus ihren Gedanken. Sie fischte es aus ihrer Tasche und sah auf das Display. Die Nummer kannte sie: Sarah Liu.
Sie drückte das Gespräch weg und warf das Telefon auf den Beifahrersitz. Carol nahm
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