Fatales Vermächtnis
Niedertracht«,
schmetterte er ihm entgegen. »Während wir versuchen, einen Ausweg für alle zu finden, hat das Heer der Nicti seine Angriffe
in Kensustria aufgenommen!«
Mi'in wirkte aufrichtig erschrocken, und er sprach kurz mit seinen Begleitern. Die Delegationen redeten laut durcheinander, es war die Rede von Ungeheuerlichkeit und Wortbruch. »Ich schwöre«, rief der Nicti, »ich schwöre, dass ich davon nichts gewusst habe! Die Allerhöchste hatte mir nichts davon gesagt!«
Pashtak stieß einen schrillen, lauten Pfiff aus, der die Menschen verstummen ließ. Es war zwar nicht standesgemäß, doch darauf nahm er keine Rücksicht. »Was ist geschehen, ehrenwerter Moolpär?«, fragte er dann.
»Der Bote brachte mir eben die Kunde, dass die Nicti ihre Attacken entlang des Frontverlaufs führen. Und wie es aussieht, handelt es sich dabei nicht um taktische Spielereien, um Druck auf uns in der Versammlung auszuüben, sondern um eine Offensive.« Moolpär beherrschte sich mühsam. »Sie haben die ersten Stellungen bereits überrannt und sind tief in unser letztes bisschen Hinterland vorgedrungen. Es war auch die Rede von Gräueltaten, wie ich sie eben angesprochen hatte. Und von rätselhaften Kräften, die unsichtbar töten.«
»Das verstehe ich nicht!«, begehrte Mi'in auf. »Es war nicht vorgesehen. Bei meiner Abreise teilte mir die Allerhöchste selbst mit, dass ich eine Lösung finden solle, die uns und Ulldart vor weiteren Kriegen bewahrt. Wenn sie den Befehl zum Angriff gegeben hat, so hat sie mich ebenso getäuscht wie Euch.«
Perdor hatte nachgedacht. »Kann es sein, dass jemand anderes die Macht im Heer an sich gerissen und sie vom Thron gestoßen hat? Um die Gelegenheit zu nutzen?«
»Niemals!«, wies Mi'in empört zurück. »Sie ist die Nachfahrin von Belkala und im Besitz des Heiligtums. Niemand kann es wagen, sich der göttlichen Königin zu widersetzen. Er würde auf der Stelle von Hunderten Nicti ergriffen und zerfetzt.«
»Dann muss sie den Befehl gegeben haben.« Perdor sah zu Moolpär. »Was habt Ihr nun vor?«
»Und was wird aus Ammtara?«, warf Pashtak besorgt ein.
Der Kensustrianer schwieg lange, sein schmales Gesicht verriet
nichts. »Wir verteidigen unser Land bis zum letzten Mann und
zur letzten Frau. Sogar die Priester und alle anderen Kasten werden zu den Waffen greifen«, verkündete er. »Wenn wir gefallen sind, könnt Ihr Euch ausmalen, Majestät, wie es mit Ulldart weitergeht.« Er ging zusammen mit seiner Delegation zur Tür. »Der Hunger der Nicti ist unermesslich, Majestät.« Dann war Moolpär verschwunden und ließ Ratlosigkeit zurück. Für das Grauen im Saal hatten andere gesorgt.
Kontinent Ulldart, Königreich Serusien, Frühherbst im Jahr 2 Ulldrael des Gerechten (461 n.S.)
Lodrik zog den Mantel enger um seinen Leib, der an Gewicht zugenommen hatte. Das Essen bereitete ihm Spaß, und er bekam die Statur zurück, wie sie für einen Mann in seinem Alter üblich war. Das Dürre, Skeletthafte gehörte der gar nicht weit entfernten Vergangenheit an. Der einstige Kabcar von Tarpol besaß eine Form wie in seinen besten Tagen und eine unglaubliche Lebendigkeit, die dem ständigen Regen und dem Wind trotzte. Vahidin litt dagegen abwechselnd an Husten und Fieber.
Lodrik saß in der einfachen Stube, die zu einem Wirtshaus nach der Grenze zu Ilfaris gehörte, und verfasste im Kerzenschein Briefe: an Perdor, an Norina, an Stoiko. Er wollte sie wissen lassen, was ihm in den letzten Monaten widerfahren war. Der größte Schock für alle drei würde sein, dass die Gefahr, die von Zvatochna ausging, noch immer existierte. Er versiegelte die Umschläge, steckte sie jeweils in eine dicke
Lage Wachspapier und ging zu den drei Boten, die am Tresen auf
ihn gewartet hatten.
»Diese Nachrichten müssen rasch überbracht werden«, schärfte er ihnen ein und überreichte ihnen außer den Päckchen jeweils
einen agarsienischen Taler aus purem Gold. »Wenn ihr sie zugestellt habt, wird man Euch noch mehr geben.«
Sie nickten und verneigten sich vor ihm. Zwar hatten sie keine Ahnung, um wen es sich bei ihrem Auftraggeber handelte, aber er bezahlte gut und stellte noch mehr Belohnung in Aussicht; nacheinander verließen sie das Gasthaus, und bald darauf hörte Lodrik das Trappeln von Hufen. Erleichtert atmete er auf und nahm sich einen Wein mit zu seinem Tisch. Dort saß Soscha, wie immer aus dem Nichts erschienen. Es gab keinen äußerlichen Unterschied zwischen ihr und einer Frau aus
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