Fear
Joe brauchte frische Luft. Er öffnete das Fenster zwei oder drei Zentimeter weit und wartete einen Moment, bis er sicher war, dass nicht zu viel Wasser eindringen würde.
Als er ins Bett stieg, tauchte ein Bild von Danny Morton vor seinem inneren Auge auf: die rasende, ungläubige Wut in seinen Zügen, als Joe ihm im letzten Moment entwischt war.
Er wird nicht aufgeben , dachte Joe. Nach dem heutigen Tag wird er noch fester entschlossen sein, seinen Rachedurst zu befriedigen.
Aber vorläufig war Joe in Sicherheit. Er schloss die Augen und sagte sich, dass er heute Glück gehabt hatte und dass er auch weiterhin Glück haben würde: Wenn er und Danny Morton sich das nächste Mal Auge in Auge gegenüberstünden, würde Joe die Bedingungen diktieren.
11
Ein Anruf um Mitternacht. Diana lag im Bett, die Finger leicht um das Handy geschlungen, weil sie wusste, dass er anrufen würde. Sie hatte nichts zu sagen, aber besser so, als wenn er vorbeikäme und an die Tür hämmerte.
»Bist du im Bett?«
»M-hm«, erwiderte sie mit schläfriger Stimme in der Hoffnung, das Gespräch so kurz zu halten.
»Allein?«
»Sehr witzig.«
»Er sieht gut aus, hab ich gehört.« Und als sie nicht darauf einging: »Aber nicht so gut wie ich?«
»Genau.«
»Bleibt er länger?«
»Nur ein paar Tage.«
»Auch wenn’s nur ein paar Tage sind, das ist nicht so toll, Di. Nicht ausgerechnet jetzt.«
»Es wird keinen Unterschied machen.«
»Woher willst du das wissen? Meine Existenz steht auf dem Spiel.«
»Es war meine Entscheidung, ihn aufzunehmen. Glaubst du, dass Leon dir das übel nehmen wird?«
Schweigen. Dann war die Antwort wahrscheinlich Ja.
»Ich bitte dich, Schatz, ich will das einfach nicht riskieren. Wenn er davon hört und ich nicht auf dem Laufenden bin … na ja, du weißt doch, wie das aussehen wird.«
»Ich kann ihn jetzt nicht vor die Tür setzen, Glenn. Und ich werde es nicht tun, nur um Leon bei Laune zu halten.«
Ein leises »Ts-ts« drang an ihr Ohr. »Weißt du, du solltest besser aufpassen, was du sagst.«
»Glenn, es ist spät, und ich bin müde.« Diana konnte die Atemlosigkeit der Panik in ihrer Stimme hören. »Können wir nicht morgen darüber reden?«
»Oh, das werden wir. Ich will alles über ihn wissen.«
»Ich hab dir doch gesagt, dass Joe schon vor Jahren bei der Polizei aufgehört hat.«
»Er dürfte immer noch wie ein Polizist ticken. Und damit ist er in Leons Augen ein Problem. Genau wie dein Roy, hm?«
»Hör auf damit. Warum sagst du so was?«
»Ab und zu musst du daran erinnert werden. Ohne mich bist du nur eine Polizistenwitwe. Und in dieser Stadt ist das nicht gerade von Vorteil, nicht wahr?«
Allein im dunklen Zimmer schüttelte Diana den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Es tut mir leid.«
»Ich weiß, Schätzchen. Und mir tut es auch leid. Ich wollte nicht so streng klingen.«
Sie hörte, wie er ihr einen Kuss schickte. Sie erwiderte ihn und versuchte, sich dabei nicht lächerlich vorzukommen. Dann legte sie das Handy weg und ließ den Kopf wieder aufs Kissen sinken. Da erst merkte sie, dass ihr die Tränen in den Augen standen.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie noch einmal in das leere Zimmer hinein. »Es tut mir so leid, Roy.«
12
Das Kreischen der Möwen weckte ihn und vertrieb einen Traum, von dem keine klaren Bilder zurückblieben. Für einen Augenblick war Joe wieder ein Kind, das am ersten Morgen der Ferien am Meer aufwachte: in Paignton, Weymouth oder Cromer. Dieses Geräusch stand für Optimismus und Lebensfreude: Schwimmen und Sandburgen und Eis – und eine ganze herrliche Woche lang Eltern, die öfter Ja als Nein sagten.
Er schlug die Augen auf, blinzelte ein paarmal, erfasste seine Umgebung und sah plötzlich wenig Anlass für Optimismus und Lebensfreude. Er war achtunddreißig, lebte unter einer falschen Identität und war auf der Flucht vor Leuten, die ihn umbringen wollten. Nicht gerade die Zutaten für einen Traumurlaub.
Und doch belastete ihn dieses Wissen aus irgendeinem Grund nicht ganz so sehr wie am Abend zuvor. Vielleicht war es die salzige Luft, die zum offenen Fenster hereinwehte. Allein die Tatsache, dass er am Meer war, schien ihm neuen Lebensmut einzuhauchen.
Joe zog das Rollo hoch und wurde von einem herrlichen Ausblick auf See und Himmel begrüßt, eingerahmt von einem Flickenteppich aus Dächern und Schornsteinen in regennassem Rot und Grau. Er machte das Fenster ganz auf und lehnte sich hinaus. Die Luft war kühl und herrlich frisch. Er
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