Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
merkwürdiger Haufen auf, der mit einer Plane zugedeckt war. Nichts war zu hören außer der stetigen Geräuschkulisse aus den Lautsprechern, die von den hohen Mauern in der Nähe widerhallte. Untermalt von statischem Brummen, skandierte eine Stimme voller Inbrunst revolutionäre Parolen.
Der geheimnisvolle Haufen war beinahe so groß wie ich und befand sich direkt neben einem Hintereingang. Als ich eine Ecke der Plane hochhob, entdeckte ich einen Berg von Büchern. Anscheinend hatte man sie hier deponiert, um sie später zu verbrennen. Ich griff mir ein Buch heraus und blätterte darin. Dann legte ich es zurück und vergewisserte mich, dass man mich von der Straße aus nicht beobachten konnte. Darauf kehrte ich zu dem Bücherberg zurück. Behutsam zog ich ein paar dickere Bände heraus, die ich aufeinanderstapelte, um mich daraufzusetzen. Nachdem ich es mir bequem gemacht hatte, blätterte ich wieder in den Büchern.
Ich verstand die Wörter zum größten Teil nicht, doch die großen, glänzenden Fotos übten eine ungeheure Faszination auf mich aus. In einer wunderschön gebundenen Enzyklopädie stieß ich auf Hunderte atemberaubende Bilder von seltsamen Pflanzen und Tieren, von schneebedeckten Bergen und Ebenen, die mit Bäumen bestanden oder mit Gras oder Eis bedeckt waren. Ich konnte kaum glauben, dass es das alles wirklich gab. Staunend betrachtete ich riesige, saubere Gebäude und Menschen mit seltsamem Aussehen, die seltsame Kleider trugen. Es gab Bilder von Seen, Meeren und dem Himmel in einem so leuchtenden Blau, wie ich es noch nie gesehen hatte. Dann sah ich Fotos von lachenden Kindern, die bunte Kleider trugen, spielten und vor der Kamera posierten. Manchmal waren sie auch mit ihren Familien abgebildet. Und sie alle strahlten. Wie wunderbar, dachte ich. Und war neugierig geworden.
Die Bücher waren für mich ein Fenster zu einer anderen Welt. Ich verlor mich in ihnen, in den Geschichten, die sie erzählten – für mich war das alles verlockendes Neuland. Es war, als sähe ich Szenen aus einem Traum, den ich noch nicht geträumt hatte. Und ich fragte mich, wie diese Kinder so unbeschwert sein konnten. Wer waren sie? Wo lebten sie? Wie konnte ich eines von ihnen werden? Stunde um Stunde saß ich da und erkundete diesen Schatz.
Ich wusste, dass ich keines dieser Bücher mit nach Hause nehmen konnte. Wenn man mich unterwegs damit erwischte oder die Rotgardisten sie in unserer Wohnung fanden, würde meine ganze Familie dafür büßen müssen. Doch wenn mich hier jemand beim Lesen ertappte, konnte ich davonlaufen oder behaupten, ich wollte die Bücher als Brennmaterial oder Toilettenpapier verwenden – denn das war ja erlaubt. Da man aber den Bücherhaufen von der Straße aus nicht sehen konnte, war es unwahrscheinlich, dass mich jemand beim Lesen überraschte. Also saß ich auf meinem kleinen Thron aus Büchern und genoss diese verbotenen Früchte. Als es zu dämmrig wurde, um weiterzuschmökern, legte ich die Bücher widerstrebend aus der Hand, deckte den kostbaren Haufen wieder zu und lief nach Hause.
In den nächsten Tagen führte mich mein Weg immer wieder zu den Büchern. Beim Lesen blendete ich die ganze Welt ringsum aus und lebte mit den Kindern auf den Fotos und den Figuren in den Geschichten. Ich schwebte von meinem freudlosen Dasein in ein anderes hinüber, wie ich es mir kaum vorzustellen gewagt hatte. Gebannt blätterte ich eine Seite nach der anderen um und wünschte mir, die Geschichten würden niemals enden. Bei manchen Stellen lachte ich laut auf, dann wieder war ich zutiefst betrübt, wenn die Helden in Schwierigkeiten gerieten. Ihr Leben wurde zu einem Teil von meinem.
Nicht alle Geschichten waren mir neu. Etliche Buchtitel kannte ich von der beschlagnahmten Sammlung meines Vaters her. So stieß ich auf
Gullivers Reisen
und reiste mit Jonathan Swift in ferne Länder, deren Probleme denen in China glichen. Beim Lesen dachte ich oft an Papa. Ich wusste, wie sehr er Bücher liebte, und hätte ihn gern an diesem Schatz teilhaben lassen. Tagelang folgte ich der Geschichte von Edmond Dantès, der wie Papa in ein Gefängnis gesperrt worden war. Ich las über Jean Valjean, der nicht nur im Gefängnis saß, sondern auch nach seiner Entlassung noch schikaniert wurde – wie Papa. Am allerbesten gefiel mir aber Anne Frank, die sich mit ihrer Familie vor grausamen Verfolgern verstecken musste. Die Ähnlichkeit zu meinem Leben und dem meiner Familie war unübersehbar. Sie erschien mir wie eine
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