Federschwingen
seinen Freund und Kollegen gekränkt hatte, aber im Moment lagen seine Prioritäten anders.
„Du tust gerade so, als würde ich Helena nach Troja entführen wollen. Es ist Sex, nichts weiter“, erwiderte Zamael gelassen.
Erael sagte nichts mehr, doch er war bei seinen letzten Worten blass geworden. Zamael hatte allerdings keine Ahnung, warum. Wütend wirkte Erael nicht mehr, eher … enttäuscht oder verletzt.
„Es ist traurig, dass du das so siehst“, murmelte Erael, wandte ihm den Rücken zu und zeigte ihm beim Gehen seine weißen Flügel, die einen ganz leichten Blaustich hatten. Wäre Erael nicht so ein anständiger Kerl, hätte Zamael es bei ihm sicher versucht, obwohl er aufgrund seiner Größe nicht so gut in sein Beuteschema passte, wie ein gewisser Dämon ...
~*~
Die schwere Eichenholztür fiel mit einem derart ohrenbetäubenden Knall ins Schloss, dass sämtliche Fenster im Erdgeschoss klirrten. Dantalions Laune war nahe am Gefrierpunkt, und sie sank noch weiter – durch Leonards Schuld. Der schoss nämlich wie von der Tarantel gestochen aus seinem Arbeitszimmer und fauchte über die Brüstung des oberen Flurs nach unten: „Bist du komplett wahnsinnig geworden? Ich habe dir schon hundert Mal gesagt, dass du die Türen nicht zuschlagen sollst!“
Dantalion schenkte ihm keinen Blick, dafür aber wahrscheinlich einen Hörsturz.
„Ich habe gerade eben gegen vier Typen der Bruderschaft gekämpft, Leonard! VIER! Wäre Knox allein gewesen, wäre er jetzt tot. Erzähl du mir nicht, ich soll wie ein Mäuschen hereinhuschen und mich still verhalten!“
Leonards schweres Seufzen war bis ins Erdgeschoss zu hören. Knox war einer der Boten, die für sie kleinere Erledigungen machten und dafür gelegentlich in die irdische Welt kamen.
„Wahrscheinlich waren das die einzigen vier, also reg dich ab. Die Bruderschaft ist tot, und solange wir hier sind, wird das so bleiben.“
„Blödsinn!“ Dantalion hatte das Gefühl, er müsste auf der Stelle explodieren. Warum nahm Leonard diese Bedrohung nicht ernst? Er bemühte sich um ein wenig Ruhe, schloss die Lider und übermittelte Leonard, was er aus den Gedanken der drei Männer gefiltert hatte, Sekunden bevor Zamael aufgetaucht war.
Wir müssen Mary in die Zentrale bringen. Sie ist zu schwer verletzt.
„Also schön, es ist eine größere Gruppe“, räumte Leonard ein. „Das erklärt wenigstens, warum einige niedere Dämonen verschwunden sind. Aber das ist keine Bedrohung.“
„WAS?“, schrie Dantalion, bebend vor Empörung und Zorn. „Keine Bedrohung? Mach endlich die Augen auf!“
„Es sind nur Menschen, Dantalion. Sie sind allein da draußen. Aber um dich zu beruhigen: Ich behalte die Sache im Blick. Du bist der Erste, der es erfährt, falls es ernst wird.“
„Worauf du wetten kannst!“ Dantalion knurrte mehr, als dass er sprach. Er war sich sicher, dass Leonard trotzdem verstand, was er sagen wollte. Missmutig stapfte er ins Wohnzimmer, riss die Schrankbar auf und bediente sich an Leonards kostbarstem Whisky. Selber Schuld, den so offen hier herumstehen zu lassen …
Der Alkohol brannte angenehm in seiner Kehle und seinem Magen. Dantalion spürte, wie er mit jedem Schluck ruhiger wurde. Geschafft schloss er die Lider und legte den Kopf in den Nacken. Das Gefühl der Wärme, das seinen Bauch ausfüllte, kam ihm bekannt vor. Unwillkürlich schweiften seine Gedanken zu Zamael, was dafür sorgte, dass die Wärme zu einer unangenehm heißen, wütenden Glut wurde. Nein, das war nicht das Gefühl, das er suchte, und so assoziierte er als Nächstes einen anderen Engel in seinen Gedanken. Erael an sich gepresst, mit dem Hellraiser an seinem Hals ... Die Ruhe in seinem Kopf ...
Wenn Dantalion so zurückdachte, war Erael der Erste seit sehr, sehr lan ger Zeit, der ihm nicht verbieten wollte, seine Gedanken zu lesen. Freigiebig hatte der Engel alles mit ihm geteilt, sich ihm bereitwillig offenbart. Es war ihm so vorgekommen, als hätte Erael nichts zu verbergen. Diese Ruhe in der mentalen Welt des Engels war überraschend angenehm gewesen. Für ihn, der ständig mit der lautstarken Kakophonie unterschiedlichster Gedankenfetzen konfrontiert war, bis er manchmal nicht mehr wusste, welche Gedanken seine eigenen waren und welche nicht, gab es nichts Erfreulicheres als einen strukturiert denkenden Geist, der in sich ruhig und gesetzt war. Eraels innere Stimme war klar und stark. Außerdem dachte er jeden Satz zu Ende, was die wenigsten
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