FEED - Viruszone
Februar 2040
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Anlässlich von Senator Rymans Besuch hatte man reihenweise Klappstühle im Gemeindesaal aufgestellt. Videomonitore waren so positioniert, dass sie sein Bild bis ganz ans Ende des riesigen Raums übertrugen. Neben jeder fünften Reihe standen Lautsprecher, um sicherzustellen, dass seine Worte kristallklar zu vernehmen waren, wenn sie die Ohren der zwanzig Mutigen erreichten, die es tatsächlich gewagt hatten herzukommen, um seine Rede zu hören. Die Besucher hatten sich in den vordersten Reihen gesammelt, sodass hinten Platz für das Gefolge des Senators, seine Sicherheitsleute und natürlich für uns drei war. Insgesamt waren wir dem Wahlvolk zahlenmäßig fast zwei zu eins überlegen.
Nicht, dass das zum ersten Mal vorgekommen wäre. Wir hatten in den sechs Wochen seit unserer Abreise aus Kalifornien in fast zwei Dutzend Bundesstaaten und an mehr als dreimal so vielen Veranstaltungsorten das Gleiche erlebt. Die Leute gehen nicht mehr so oft raus, um Hände zu schütteln, nicht mal zu den Vorwahlen, von denen abhängt, welche Kandidaten es bis zur Präsidentschaftswahl schaffen. Sie haben zu viel Angst, sich anzustecken, oder davor, dass dieser komische, Selbstgespräche führende Typ in Wirklichkeit gar nicht verrückt ist – sondern gerade von Viren überflutet wird und sich gleich einen saftigen Bissen genehmigt. Die einzigen nicht bedrohlichen Menschen sind die, die man so gut kennt, dass man die durch das Virus ausgelösten Persönlichkeitsveränderungen bei ihnen sofort bemerken würde. Da nur wenige Leute genug enge Freunde haben, um einen Hörsaal zu füllen, gehen die meisten erst gar nicht vor die Tür.
Das heißt allerdings nicht, dass die Leute uns ignoriert hätten. Den Quoten, Seitenzugriffen und Downloads zufolge verzeichnet dieser Wahlkampf einige der höchsten Zuschauerzahlen seit Cruise vs. Gore im Jahre 2018. Die Leute wollen wissen, wohin die Reise geht. An dieser Wahl hängt eine ganze Menge. Und ganz nebenbei auch unsere Karrieren.
Shaun findet seit jeher, dass ich die Dinge zu ernst nehme. Seit Beginn der Wahlkampftour sagt er, dass man mir meinen Sinn für Humor wegoperiert hat, um Platz für noch mehr Verbissenheit zu machen. Jeder andere hätte sich mit diesen Worten wahrscheinlich eine Maulschelle von mir eingefangen, aber da sie von Shaun kamen, musste ich zugeben, dass sie ein Körnchen Wahrheit enthielten. Trotzdem, wenn ich ihn hätte machen lassen, dann würden wir bis ans Ende unserer Tage bei meinen Eltern wohnen und so tun, als machte uns der Mangel an Privatsphäre nichts aus. Jemand muss unsere Zukunft im Blick behalten, und dieser Jemand bin seit jeher ich.
Ich warf Buffy einen Blick zu und fragte im Flüsterton: »Wie steht es um unsere Quoten?«
Sie schaute nicht von dem Text auf, der mit rasender Geschwindigkeit über ihr Telefondisplay lief. Die Daten kamen in einem Tempo rein, dass ich nicht den Hauch einer Chance hatte, sie zu verfolgen, aber offensichtlich wurde Buffy schlau daraus, denn sie nickte mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen und sagte: »Wir haben hier sechzig Prozent regionales Publikum auf dem Videokanal, und wir sind gerade in die obersten sechs Prozent im Web eingezogen. Der einzige Kandidat mit höheren Videoquoten ist Kongressfrau Wagman, und in den Umfragen hängt sie hinterher.«
»Außerdem wissen wir ja, woher sie ihre Videoquoten kriegt, hab ich recht, Kinder?«, sagte Shaun gedehnt, während er damit fortfuhr, die Glieder seines Lieblingskettenhemds mit einer kleinen Kneifzange zu überprüfen.
Ich schnaubte. Auf den Blogs zirkulierte das Gerücht, dass Kirsten »Tittenwunder« Wagman sich einer massiven Brustvergrößerung unterzogen hatte, bevor sie in die Politik gegangen war, in der Annahme, dass bei der heutigen Wählerschaft, die sich vor allem übers Internet informierte, gutes Aussehen wichtiger sei als ein bisschen Schmalz in der Birne. Eine Weile ist sie damit gut gefahren – sie hat einen Sitz im Kongress gekriegt, sicher teilweise, weil sie einfach nett anzusehen ist – , aber bei einer Präsidentschaftswahlkampagne wird sie damit nicht besonders weit kommen. Insbesondere jetzt, wo sie es mit Leuten zu tun kriegt, die etwas von den Themen verstehen, um die es geht.
Senator Ryman schien gar nicht zu bemerken, wie leer der Saal war, und auch nicht die nervösen Mienen seiner wenigen echten, physisch anwesenden Zuhörer. Die meisten waren wahrscheinlich Lokalpolitiker, die sich herauswagten, um zu zeigen,
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