Feenkind
ihrer Wanderung inne zu halten, kramte sie einen Apfel heraus und biss herzhaft hinein. Das Gefühl, wie der süße Saft ihre Kehle herunter rann, war umso schöner, da sie nicht wusste, wann sie wieder etwas zu essen bekommen würde. Irgendwie glaubte sie nicht daran, in dem uralten Höhlensystem auf etwas Essbares zu stoßen.
Von diesem Gedanken angespornt, beschleunigte Dhalia ihren Schritt, der zwischendurch mehr zu einem Schlendern geworden war. Je früher sie aus der Höhle herauskam, desto früher würde sie endlich richtig Rast machen können - unter freiem, herrlich blauem Himmel. In ihrer eigenen Welt, wo sie keine Angst haben musste, dass ihr das Wasser oder sogar die Luft ausgehen konnten. Sie schob das plötzlich aufsteigende Angstgefühl entschieden beiseite. Es gab keinerlei Hinweise darauf, dass die Höhlen nicht ausreichend durchlüftet waren. Dennoch, ein Unwohlsein blieb. Je länger sie durch die Tunnel irrte, desto stärker wurde in ihr das Bedürfnis, dieses unheimliche, fremdartige Labyrinth endlich hinter sich zu lassen.
Endlose Abzweigungen später griff Dhalia in ihren Rucksack, um ihre kleine Öllampe wieder aufzufüllen. Dabei stellte sie mit Schrecken fest, dass ihr nach dem Nachfüllen nur noch eine Ölflasche blieb.
Schon längst hatte sie jede Orientierung verloren, so oft war sie in Sackgassen gelandet, musste zu Abzweigungen zurückkehren und neue Wege ausprobieren. Und trotz all ihrer Mühe hatte sie nichts außer den eintönigen, verflochtenen Gängen gesehen, die einander wie ein Ei dem anderen ähnelten. Sie hatte keinen einzigen Richtungsweiser, keinen einzigen Anhaltspunkt gefunden. Müde setzte sie sich auf den glitschigen Boden, die Feuchtigkeit kümmerte sie schon lange nicht mehr. Ihre Beine schmerzten von der Anstrengung des stetigen Auf und Ab in den oft rutschigen Gängen des Tunnelsystems. Sie massierte ihre Muskeln, während sie nachrechnete, wie lange sie bereits in der Höhle umherirrte. Nach ihrem Ölverbrauch zu urteilen, war sie bereits viele Stunden in dem Labyrinth unterwegs. Kein Wunder, dass sie so müde war, es musste kurz vor Mitternacht sein.
Nachdenklich, fast philosophisch betrachtete die junge Frau ihre letzte Ölflasche. Sie würde auf keinen Fall ausreichen, um den Weg zurück zur Oberfläche zu finden. Andererseits wusste sie auch
mit
Licht nicht, wo der Ausgang lag. Sie blickte den Tunnel, in dem sie saß, hinab - auch er schien in einer Sackgasse zu enden. Das hieß, sie musste zur letzten Gabelung zurück und sich dann nach links wenden. Dhalia versuchte noch immer, die Gänge systematisch abzusuchen, und ritzte vorsichtshalber ein Zeichen in die Wand eines jeden Tunnels, den sie bereits erforscht hatte. So stellte sie zumindest sicher, dass sie nicht im Kreis lief.
Müde rappelte sie sich wieder auf. Die Zeichen würden ihr nur so lange helfen, wie sie Licht hatte. Danach musste sie sich etwas anderes einfallen lassen.
Einige Schritte weiter machte der Tunnel eine Kurve und Dhalia spürte plötzlich einen leichten Gegenwind in ihrem Gesicht. Beim ersten Mal hatte sie der so plötzlich auftauchende und wieder verschwindende Wind, der von kaum wahrnehmbaren Stimmen und Klängen begleitet wurde, erschreckt. Mittlerweile hatte sie sich an sein Erscheinen gewöhnt, auch wenn sie ihm lieber aus dem Weg ging, da er sie an die Geschichten über Geister und Tote erinnerte, die im Winter so gern am Kamin erzählt wurden. Dhalia war sich nicht sicher, ob sie an Geister glaubte. Sie wollte allerdings nicht das Risiko eingehen, sich einem Geist, falls es ihn gab, in den Weg zu stellen. Und so presste sie sich flach an die Wand, um das Vorbeiziehen des Windes abzuwarten.
Zumindest hatte sie das vorgehabt. Doch als sie sich an die Wand drückte, spürte sie im Rücken keinen Stein. Mit einem entsetzten Schrei verlor sie das Gleichgewicht und fiel nach hinten durch die scheinbar solide Wand.
Sie schaffte es gerade noch, den Sturz mit ihren Händen abzufangen, und setzte sich verwundert auf den Boden. Vor ihr, ungefähr da, wo ihre Knie hätten sein sollen, ragte eine massive Wand auf. Hastig zog sie ihre Beine an. Sie glitten mühelos durch den Stein, als wäre er gar nicht vorhanden.
Neugierig richtete Dhalia sich auf und streckte ihre Hand versuchshalber nach der Tunnelwand aus. Sie verschwand ohne Widerstand in dem scheinbar soliden Fels.
Einen Augenblick lang starrte sie verwirrt die Tunnelwand an, dann wurde ihr die Tragweite ihrer Entdeckung allmählich
Weitere Kostenlose Bücher