Feenring (German Edition)
aber nahmen meine Sinne eine blutige Süße aus Zimt und Kupfer wahr: Menessos. Der mittlere Weg … musste demnach in meine Finsternis führen.
Mir stockte der Atem. Auf dem Hexenball war mir, kurz bevor ich dem Lucusi mitgeteilt hatte, dass ich die Lustrata war, Hekate erschienen. Sie hatte gesagt: »Du wirst mich in der Dunkelheit finden. In deiner Dunkelheit. Wenn du bereit bist, deine Seele zu sehen … ich werde warten.«
Ich setzte behutsam einen Fuß vor den anderen, während ich mit den Fingern über die kalte, klamme Höhlenwand tastete. Langsam, aber sicher kam ich voran. Als ich nach einem Dutzend weiterer Schritte keinen Boden mehr unter den Füßen spürte, blieb mir beinahe das Herz stehen. Ich ging in die Hocke, tastete ins Leere.
Zuerst wollte ich umkehren. Doch ich wusste, ich würde mich nicht zwischen Menessos und Johnny entscheiden können. Grotesk. Mein Weg war keine Sackgasse, kein Pfad in die Dunkelheit, der ins Bodenlose führte. Das konnte nicht sein. Ich war die Lustrata. Ich brachte Licht und Gerechtigkeit. Licht. Der Name Lustrata enthielt das Wort luster : Glanz, Vorschein.
Der Mantel!
Als ich meinen Schutzschild und das Licht, das er barg, anrief, erhellte sein sanfter Glanz alles ringsum. Nach und nach schälte sich eine riesige Höhle aus dem Dunkel, ein Ort, den Riesen – Titanen – in die Grundfesten der Erde gegraben hatten. Ich stand am Ende einer großen Treppe, deren jede Stufe einen Meter fünfzig Höhe und neun Meter Breite maß. Die endlose Halle vor mir wurde von Säulen wie Wolkenkratzern gestützt.
Ich kauerte mich an den Rand, sprang Stufe um Stufe, bis ich insgesamt dreizehn zählte.
Auf der letzten blieb ich stehen. Die Decke zwischen den Riesensäulen war mit Stalaktiten gesprenkelt, während die dazugehörigen Stalagmiten den Boden darunter übersäten. Ich sah mich nach einem Fußweg um. Ich kam mir im Haus der Riesen vor wie eine Maus; auf der Hut vor einer sprungbereiten Riesenkatze spähte ich in die Weite und machte mich vorsichtig an den Abstieg.
Meine Füße traten nicht mehr auf Stein, sondern auf Holz.
Ich ließ mich zu Boden fallen. Hier, am Fuße der gewaltigen Steinstufen, fand ich eine breite, gewölbte Tür, die aussah, als könnte eine Zeichentrickmaus dahinter leben – wenn diese so groß war wie ein Mensch. »Pass gut auf, was du denkst«, warnte ich mich im Geiste.
Die Riesenhalle bestand bis auf eine mannshohe Tür ganz aus Fels. Das erleichterte mir die Entscheidung, was als Nächstes zu tun war.
Ich drückte gegen die glatte Tür, die ächzend nachgab. Dahinter trat ich in nächtliches Dunkel. Ich befand mich nicht mehr am See, sondern auf festem, trockenem Untergrund, unter meinen Füßen raschelte dürres Herbstlaub. Die Tür führte auf eine riesengroße – nein, ich würde fortan sparsam mit diesem Wort umgehen – eine ausgewachsene Ulme, die sich als schwarzer Umriss mit unnatürlich reglosen Blättern himmelwärts reckte.
Ich löste den Blick von den Ästen und prüfte den Himmel auf Hinweise darauf, wo ich mich hier befand. Doch ich konnte keines der Sternbilder in der mondlosen Nacht bestimmen.
Dann stieg mir der Duft von Rosinen und Korinthenplätzchen in die Nase. Vor mir begann eine Schotterpiste, die ich nahm. Etwa ein Dutzend Meter vor mir trafen zwei weitere Verbindungswege auf meinen. Auf jeder Seite einer. In der Mitte, wo die drei Pfade aufeinandertrafen, stand eine dunkel gekleidete alte Frau, deren Gesicht unter einer Kapuze verborgen war. Ihre Hände umfassten die aus dem gebogenen Schaft einer Sense ragenden Griffe. Die Spitze ruhte im Straßenschmutz: Hekate am Scheideweg.
»Da bist du«, sagte sie mit der Stimme der Ewigkeit, der Stimme der Tiefen des Nichts und des Alls, der Stimme der alten Hexe.
Ich ließ die Ulme hinter mir und fragte: »Muss ich nun meine eigene Seele anschauen?«
»Nur wenn du bestimmen willst, welche Teile du weggibst.«
Ich blieb ungefähr drei Meter vor Ihr stehen. Immerhin war sie bewaffnet. Ich hoffte, dass sie nicht wirklich an diesem Ritual teilhatte und unsere Seelen mit Ihrer Sense zerteilte. Besonders scharf sah das Ding nämlich nicht aus, und hygienisch auch nicht. »Was riskiere ich, wenn nicht?«
Sie zuckte die gebeugten Schultern. »Du bekommst, was du wählst oder wünschst.«
Wahl oder Wunsch. Das hörte sich nach einer nutzlosen Unterscheidung an, als handelte es sich um ein und dasselbe, doch ich wusste, dass dem nicht so war. Wer die Wahl hatte, hatte die
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