Fehlschuss
schüttelte
die lange schwarze Wuschelmähne. Wie immer war ihre knallrote Hornbrille nach
vorn gerutscht. „Die vom Obdachlosencafé haben mir gesagt, dass es jede Menge
Berber gibt, die sich nie irgendwo blicken lassen.“
Plötzlich grinste sie. „Mensch, Chef — Sie haben vielleicht Sternchen
in den Augen!“
„Ach ja?“ Wieso sahen Außenstehende das sofort? Immer! „Na, dann raten
Sie mal!“
Zwischen ihm und seiner Anwaltsgehilfin hatte es nie irgendwelche
Geheimniskrämereien gegeben. Er wusste von ihrem verheirateten Verhältnis,
genauso wie sie alle Dramen rund um Anne mitbekommen hatte. Enge berufliche
Zusammenarbeit hatte irgendwie immer etwas von einer alten Ehe: Man kannte sich
in- und auswendig, und so gut wie nichts blieb verborgen.
Die Nixe legte die Stirn in Dackelfalten und schob mit dem Zeigefinger
die Brille nach oben. „Also, wenn ich bedenke, was für eine Laune Sie gestern
hatten. Und dann ruft diese Frau Berndorf an und — Schwupp! Sie segeln hier
raus, als hätten Sie Skier unter den Füßen.“
Chris lachte. „Mit Ihrer Kombinationsgabe sollten Sie zur Polizei
gehen! — Nein, besser nicht! Ich brauch Sie noch.“ Er lehnte sich in seinem
Sessel zurück. „Was schließen Sie daraus?“
„Frau Berndorf wird ab sofort gleich durchgestellt, wenn sie anruft“,
schmunzelte die Nixe und erntete ein zustimmendes Grinsen von ihrem Chef.
Der Klient, der sich für 14 Uhr angesagt hatte, kam einfach nicht.
Auch gut, dachte er, legte die Beine auf den Schreibtisch und griff zur
Tageszeitung.
Nach ein paar Minuten aber schweiften seine Gedanken ab. Ihm wurde
plötzlich klar, dass er gestern Abend eine Entscheidung getroffen hatte — wenn
es denn je etwas zu entscheiden gegeben hatte. Vor nicht einmal einer Woche war
er noch überzeugt gewesen, froh und glücklich mit sich allein zu sein. Das war
im Prinzip auch immer noch so. Nur, dass er jetzt das Gefühl hatte, mit Karin
noch froher und noch glücklicher zu sein.
„Mensch, Sprenger, du bist doch bekloppt!“, sagte er laut. Er dachte
ernsthaft über eine Beziehung mit einer Frau nach, die er drei Mal gesehen
hatte! Schnell versuchte er, sich zur Ordnung zu rufen. Aber es gelang ihm
nicht. Stattdessen überlegte er, mit welchen Problemen Karin wohl jeden Tag zu kämpfen
hatte. Da sagten auch seine Kindheitserinnerungen an den gütigen Onkel Zimmer
nicht viel aus. Wie trug man zum Beispiel auf zwei Krücken ein Glas Wasser von
A nach B? Wie hatte man beim Kochen alles — und wirklich alles — in Griffnähe?
Wie bückte man sich und polierte die Badewanne? Wie …? Tausend alltägliche
Kleinigkeiten, die Berge von Schwierigkeiten mit sich brachten. Seine eigene
Wohnung war diesbezüglich ein Alptraum. Die Whiskyflasche stand in der Küche,
die passenden Gläser dazu im Wohnzimmer. Der Herd war auf der einen Seite der
Küche, das Gewürzbord auf der anderen. Töpfe und Pfannen irgendwo dazwischen,
Geschirr wiederum in der kleinen Anrichte im Wohnzimmer …
Lösbare Kleinigkeiten! Es spielte keine Rolle. Er wollte Karin. Mit
allem. So wie sie war. Punkt.
Er sollte sie anrufen. Jetzt gleich.
Achtzehn
Susanne fraß
schon seit zwei Tagen einen Frust nach dem anderen in sich hinein, und
dementsprechend war ihre Laune. Zwei Tage, die sie mit Gesprächen rund um die
Hünefeldstraße zubrachten. Die immer und immer wieder mit einem bedauernden
Kopfschütteln der befragten Personen endeten. Sie redeten nochmals mit
Verwandten von Inge Lautmann, mit ehemaligen Kolleginnen und Kollegen aus der
Zeit, als sie noch beim Kaufhof arbeitete. Hellwein nahm mehr als zwei Stunden
Brigitte Tönnessen, die dieses Mal nüchtern war, in die Mangel. Er
konfrontierte sie mit der Theorie, die Chris am Dienstag früh Susanne erklärt
hatte. Hellwein tat so, als wüsste er genau, dass Inge das Geschäft ohne
Tönnessen hatte machen wollen, und dass sie deshalb bestraft werden sollte. Das
im Milieu Übliche halt: Die Frauen, die nicht spurten, wurden so verprügelt und
gequält, dass sie nie wieder auf dumme Gedanken kamen.
„Peinlich nur, dass Inge gestorben ist, nicht?“, schloss Hellwein.
Aber Tönnessen durchschaute sein Spiel sofort und machte auf
überheblich-empört. Die zu Unrecht Verdächtigte, die reine, unschuldige Seele,
der nichts nachzuweisen war.
Natürlich war ihr nichts nachzuweisen, dachte Susanne ärgerlich. Dabei
war sie beinahe sicher, dass Chris mit seinen Vermutungen richtig lag. Die
Frage war nur, wie sie Tönnessen so
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