Fehlschuss
Ort
und Stelle zu rücken.
Erst als sie auf der Autobahn waren, fiel Susanne das Naheliegendste
ein. „Sag mal“, fragte sie ihren Kommissar, der am Steuer saß, „wieso sind die
Kollegen denn gleich auf uns gekommen?“
Er grinste verschmitzt. „Vorgestern hatte ich Kegeln. In dem Verein
ist auch der Kollege aus Euskirchen. Na ja, ich hab ihm von der Lautmann-Sache
erzählt, und dabei ist wohl auch ihr Name gefallen. Jedenfalls hat er sofort
geschaltet, nachdem er ihre Papiere gesehen hatte.“ Sein Grinsen wurde noch
breiter. „Du siehst also, Chef: Ein bisschen Privatleben kann manchmal ganz
hilfreich sein.“
Diese letzte Bemerkung wurde nur mit einem Schnauben quittiert.
Sie mussten nach dem abgelegenen Parkplatz nicht lange suchen. Das
Polizeiaufgebot war unübersehbar. Ein halbes Dutzend Streifenwagen säumten den
Straßenrand. Auf dem kleinen Parkplatz standen mehrere Mannschaftswagen und ein
grün-weißer Polizeibus. Ganze Hundertschaften schienen schon dabei zu sein, den
Wald zu durchkämmen.
Bernd Krämer, Hellweins Kegelbruder aus Euskirchen, erwartete sie
neben dem neutralen grauen Kastenwagen der Spurensicherung. Sein kahler Schädel
glänzte wie eine Billardkugel.
„Genickschuss“, begann er ohne Umschweife. „Aus nächster Nähe.“
Er stapfte an der östlichen Seite des Parkplatzes ins Unterholz. Es
war empfindlich kühl, weil die dicht belaubten Kronen der Eichen und Buchen
kaum einen Sonnenstrahl durchließen. Leichter Dunst hing zwischen den
Baumstämmen. Susanne roch feuchtes Laub und modrige Erde.
„Eine Art Hinrichtung würde ich sagen“, vermutete Krämer jetzt.
„Obwohl …“ Er blieb stehen, drehte sich herum und fixierte seine Kölner
Kollegen kurz. „Es ist kein schöner Anblick. Da hat sich jemand ziemlich
ausgetobt.“
Susanne straffte die Schultern und bemühte sich, seinem Blick
standzuhalten. Jeden Polizisten traf der Anblick einer Leiche auf ähnliche
Weise. Ekel, Abscheu und Wut waren immer dabei. Manchmal überwog der Ekel,
manchmal die Wut. Ekel, wenn die Liegezeit erheblich war und die Leiche
entsprechende Verwesungsspuren trug, oder auch, wenn das Opfer besonders
scheußliche Verletzungen davongetragen hatte. Dann kam die Wut, es nicht
verhindert zu haben, nichts dagegen tun zu können.
Zorn auf den Täter und Mitleid mit dem Opfer kamen erst später. Wenn
man sich in die Ermittlungen kniete, das Opfer kennenlernte, dem Motiv
nachspürte. Und dann musste man Acht geben, dass man sich nicht in Wut und
Mitleid verstrickte, durfte diese Gefühle nicht zu nahe an sich heranlassen.
Sie verstellten den Blick, machten befangen.
Krämer hatte sie jetzt auf den Ekel vorbereitet. Und da Susanne
absolut sicher war, dass die Liegezeit nicht allzu lange gedauert haben dürfte,
war sie auf das Schlimmste gefasst.
Trotzdem konnte sie den Drang, einfach davonzurennen, kaum
unterdrücken, als sie unter dem weißen Plastikband, das den unmittelbaren
Tatort umgab, hindurchgekrochen waren.
Sie war nackt. Der Kopf und das mit blonden Locken umrahmte Gesicht
waren unversehrt. Der übrige Körper aber schien einem Fleischwolf zu nahe
gekommen sein. Es gab kein Körperteil, das nicht durch tiefe Fleischwunden
zerfetzt gewesen wäre. Keins. Der Unterleib war von Schnittwunden durchzogen,
die trotz der Unmengen geronnenen Blutes unschwer zu erkennen waren. Direkt
unterhalb des Haaransatzes im Nacken war statt eines ehemals zarten Genicks eine
blutig-breiige Masse. Vorn, in Höhe der Luftröhre sah es noch schlimmer aus.
Dort war die Kugel ausgetreten. Hautlappen, steif vor Blut, waren
trichterförmig um das Loch aufgeworfen.
„Wie gesagt, Genickschuss aus nächster Nähe“, erklärte Krämer
sachlich. „Kugel vorn wieder ausgetreten. Winkel und Schusskanal lassen darauf
schließen, dass sie gekniet hat, als sie erschossen wurde. Vorläufige Todeszeit
etwa drei Uhr diese Nacht, meint unser allwissender Doktor. Ansonsten
einerseits flache, andererseits sehr tiefe Schnittwunden. Wahrscheinlich hat er
sich vorgearbeitet. Langsam angefangen und sich dann immer weiter gesteigert.“
Susanne wandte sich ab und ging zum Auto zurück. Ihr Kopf war absolut
leer, bis auf das Bild, das sie ein paar Sekunden zuvor gesehen hatte. Nein,
kein Bild. Realität, blutige, sadistische Realität.
Sie legte die Hände auf das Wagendach und wartete auf eine Reaktion.
Irgendeine. Kotzen vielleicht, dem Magen einfach nachgeben, ihm seinen Willen
lassen. Schreien wäre auch gegangen. Schreien,
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