Fehlschuss
Chris eine Theorie auf. „Tönnessen weiß, wer der Vater ist und damit
auch der Täter und muss ebenfalls dran glauben.“
Nachdenklich wiegte Susanne den Kopf. „Tönnessen hat uns gegenüber
gesagt, dass sie rauskriegen wollte, wer denn dieser ominöse Liebhaber war. Mal
angenommen, es ist ihr gelungen. Wieso kommt sie dann mit dieser Information
nicht zu uns?“
„Weil sie geldgierig war und ihn erpressen wollte“, spekulierte Chris.
„Mag sein. Aber sie war clever. Sie hätte sich eine Art
Lebensversicherung besorgt, glaub mir. Vielleicht hätte sie behauptet, dass
noch jemand den Namen des Liebhabers kennt und gleich zur Polizei geht, falls
ihr was passiert. Irgendwas in der Art. Sie hätte ihm keine Möglichkeit
gelassen, sie einfach so umzubringen. Wie dem auch sei: Gestern Abend ist mir
noch eine Idee gekommen, die wir nicht außer Acht lassen sollten.“ Ihre Stimme
hatte plötzlich etwas Lauerndes — empfand Chris jedenfalls. „Mal angenommen,
Karin Berndorf ist ebenfalls bisexuell und hatte ein Verhältnis mit Inge
Lautmann.“
Chris explodierte augenblicklich. „Ach, interessant! Karin Berndorf
fällt also plötzlich ein, dass sie eifersüchtig sein könnte, sperrt Lautmann
drei Wochen in den Keller und prügelt ein bisschen auf ihr herum? Und weil´s so
schön war, gibt sie´s Tönnessen auch noch! Mach dich doch nicht lächerlich!“
Susanne blätterte in ihrem Block und sah ihn kühl an. „Dann pass mal
auf! Karin Berndorf, geboren am 30. April 1974 in Köln.“
Bis zum 30. April 1984, dem zehnten Geburtstag von Karin, hörte Chris
nur mit einem Ohr zu. Und dann wünschte er sich, er hätte bei dem, was danach
kam, überhaupt nicht mehr hingehört.
„Das heiße Öl setzte die Küche in Brand“, führte Susanne weiter aus.
„Der Vater ist davongelaufen. Nachbarn haben das schreiende Kind schließlich
aus den Flammen gezogen. Manfred Berndorf wurde zu zwei Jahren verurteilt,
nicht etwa wegen Missbrauch, sondern wegen schwerer Körperverletzung. Diese
Missbrauchsgeschichten wurden ja damals noch oft unter den Teppich gekehrt.
Kurz nach seiner Freilassung ist er vor ein Auto gerannt, Exitus. Der Verbleib
der Mutter ist übrigens unbekannt. Aber das nur am Rande. Karin Berndorf wächst
fortan bei den Großeltern auf, die alles für das traumatisierte, entstellte
Kind tun. Sie versäumen nur eines: ihrer Enkelin einen guten Psychiater zu
besorgen. Wie alte Leute so sind: Deckel drauf und Ende. So lange nichts
rauskommt, ist auch nie was gewesen.“
Susanne holte tief Luft und als sie fortfuhr, meinte Chris, Triumph in
ihren Augen zu sehen. „1992 versucht sie, einem wildfremden Mann den Schädel
einzuschlagen. Er hatte auf der Straße eine tätliche Auseinandersetzung mit
seiner Freundin. Berndorf kam zufällig vorbei und ist wie wahnsinnig mit einem
Pflasterstein auf ihn losgegangen. Der Junge hat knapp überlebt. Sie hat damals
ausgesagt, dass sie keine Gewalt ertragen kann und es deshalb getan hat.
Aufgrund zweier Gutachten und ihrer Geschichte wird sie für schuldunfähig
erklärt und in die psychiatrische Landesklinik Düsseldorf eingewiesen. Ende
1994 wechselt sie in die dort angeschlossene offene Wohngruppe und beginnt eine
Ausbildung zur Fotografin. Mitte 1997 schließt sie die Ausbildung ab. Sie hat
inzwischen eine eigene Wohnung, bleibt aber bis Ende 1998 in psychiatrischer
Behandlung. Sie arbeitet als Bildreporterin für ein Nachrichtenmagazin und
macht 2002 eine vielbeachtete Reportage über Kriegsopfer auf dem Balkan. Dafür
erhält sie einen internationalen, mit zwanzigtausend Dollar dotierten Preis. Im
gleichen Jahr stirbt ihre Großmutter und hinterlässt ihr circa fünfzigtausend
Euro. Das zusammen war wohl ihr Startkapital. Jedenfalls arbeitet sie seit 2003
als freiberufliche Fotografin. Sie führt heute ein völlig normales Leben. Ein
paar Freunde, wechselnde Beziehungen, keinerlei Gesetzeskonflikte.“
Endlich klappte Susanne den Block zu und nahm umständlich ihre Brille
ab. Chris fixierte den langen Stiel seines Weinglases und beobachtete, wie sich
das Licht darin brach. Er war nicht entsetzt, nicht einmal sonderlich
überrascht. Im ersten Moment hatte er das Gefühl gehabt, jemand hätte ihm den
Boden unter den Füßen weggezogen. Dann aber war alles nur viel klarer geworden.
Es war die logische Konsequenz eines zutiefst verletzten und alleingelassenen
Kindes. Nicht mehr und nicht weniger. Und es war vorbei. Seit zwanzig Jahren
schon vorbei. Er schob alles, was
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