Feind des Feindes
keine Erfahrung damit, inwieweit Alkohol den Intellekt vernebelt, und machte sich Sorgen.
Anschließend ging er in seine Wohnung, duschte, zog sich ein frisches Hemd an und wollte sich gerade in seinen ersten Abend der Selbstzerstörung stürzen, als Oberst Nordlander anrief und ihn zu einem Willkommensessen einlud.
Er nahm natürlich an. Natürlich wurde es ein sehr schwedisches Offiziersessen mit etwas mehr als nur mäßigem Alkoholkonsum.
Der Oberst wohnte in einem der Bungalows der Botschaft, einem Haus mit zwei Wohnebenen, und Carl hatte das Gefühl, irgendeine Villa in dem Stockholmer Vorort Djursholm zu betreten. Das Ehepaar Nordlander hatte die eigene Einrichtung mitgebracht.
Die Unterhaltung bewegte sich im Lauf des Abends ausschließlich auf einem Feld völlig unschuldiger Gesprächsthemen. Carl dachte zunächst, dies auf die Gegenwart der Ehefrau zurückzuführen, aber dann ging ihm auf, daß eine Frau, die seit mehr als dreißig Jahren mit einem Offizier verheiratet war, wahrscheinlich an militärische oder technische Fachsimpeleien gewöhnt war und sie ertragen konnte. Später erkannte er, daß es an dem Moskauer Arbeitsstil lag. Jeder sah es als gegeben an, jederzeit abgehört werden zu können.
Im Grunde war das unglaublich. Wie viele Diplomaten lebten in Moskau? Zwischen sechstausend und siebentausend? Immerhin war es eine der großen Hauptstädte der Welt.
Das Abhören von mehreren tausend Unterhaltungen pro Abend allein beim diplomatischen Corps - hinzu kamen Touristenhotels, ausländische Journalisten und Geschäftsleute, die sich nur besuchsweise in der Stadt aufhielten. Insgesamt vielleicht doppelt so viele Personen. Das machte ein Personal von mindestens dreißigtausend Menschen erforderlich, die sich ausschließlich dem Abhören widmeten und die das Gehörte anschließend systematisieren, abschreiben, übersetzen, analysieren und archivieren mußten.
All diese Mühe, nur um privates Geschnatter zu belauschen! Es war undenkbar. Die Sowjetunion besaß die besten Spione der Welt, die auf ihrem Gebiet ebenso erstklassig waren wie andere Russen im Ballett, in der klassischen Musik und im Eishockey, wie Carl zugeben mußte. Grundlegend konnte sich ihre Arbeit jedoch kaum von der in der westlichen Welt unterscheiden. Oder waren sie doch anders? Unterschieden sie sich in allem? Waren sie eine Welt für sich?
Nein, das war undenkbar. U-Bahn ist U-Bahn, und Moskaus U-Bahn war für jedes Verfolgerteam ein Alptraum, wie geübt und eingespielt es auch sein mochte.
Wahrscheinlich war es wie im Eishockey. Die Russen waren meist ein wenig besser und siegten. In Nordamerika und in Europa war es jedoch das gleiche Spiel, und in Ausnahmefällen siegten auch andere, beispielsweise die Schweden.
Dies hier war ein solcher Ausnahmefall. Davon mußte er ausgehen, sonst hatte er nicht die Kraft, seine Arbeit zu bewältigen.
Am nächsten Abend begann sein Abstieg, und zwar auf beste denkbare Weise. Er hatte die Abteilungssekretärin gebeten, in irgendeinem typisch russischen und guten Lokal einen Tisch zu bestellen, da er noch nie russischen Kaviar gegessen habe. Das war ihr nicht im mindesten merkwürdig vorgekommen, und sie hatte in dem altehrwürdigen Hotel National einen Tisch bestellt.
Es war wie in einem Traum, fast wie am ersten Abend auf dem Roten Platz. Der Speisesaal war altmodisch-traditionell, hatte große Fenster mit Aussicht auf den Roten Platz und die Basiliuskathedrale. Es war kühl, die Klimaanlage surrte, und er hatte einen Fenstertisch bekommen.
Der Speisesaal lag im ersten Stock, und schon auf dem Weg dorthin, in dem Korridor mit dem flauschigen, dicken roten Teppich, hörte er die Musik.
Es war der Türkische Marsch von Mozart, der so fehlerfrei gespielt wurde, daß Carl zunächst glaubte, die Gäste würden mit Konservenmusik aus Lautsprechern traktiert.
Doch ganz hinten im Speisesaal, sechs oder sieben Meter von seinem Fensterplatz entfernt, stand ein großer Flügel, an dem eine sehr hochgewachsene, schwarzhaarige Frau mit schweren Augenlidern saß. Plötzlich ging sie von Mozart zu einer Festpolonaise von Chopin über, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, und Carl versank in der Aussicht durch die schwere Tüllgardine. Dort draußen Hitze und die Abendsonne über der auch heute abend perfekt flatternden Sowjetfahne, und hier drinnen Kühle, schweres Tafelsilber und Chopin.
Doch dann wechselte die Pianistin plötzlich zu etwas, was sich wie Filmmusik anhörte.
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