Feind des Feindes
Stunde sei es möglich, wenn ihr Dienst zu Ende sei, vorausgesetzt, es werde wieder ein kleines Trinkgeld gezahlt. Carl zog einen neuen Fünf-Rubel-Schein aus der Tasche, den er über den Tisch schob. Er ließ die Hand jedoch darauf liegen, bis er mit seiner Nachricht fertig war. Er bat, die Pianistin von dem bewundernden Gast Graf Hamilton grüßen zu lassen. Er war sehr unsicher, ob der Adelstitel negativ oder positiv wirken würde.
Soweit er sich erinnern konnte, war es das erste Mal in seinem Leben, daß er sich so vorgestellt hatte.
Der Kellner sah bei der Nennung dieses kaum sozialistisch zu nennenden Namens eher ehrfürchtig als aggressiv aus, schnappte sich den Geldschein, zwinkerte und gab Carl ein Zeichen, daß er die Sache schon regeln werde.
Als dieser verschwunden war, begann die Pianistin mit dem Mozart-Stück, das Carl sich gewünscht hatte. Sie spielte ohne Noten. Er zwang seinen Gesichtsausdruck zu etwas wie andächtigem Lauschen und ließ sie keine Sekunde aus den Augen, da er sah, daß sie ihn aus den Augenwinkeln betrachtete.
Er nippte vorsichtig an seinem Wein. Seine zweite Flasche war noch zu einem Drittel gefüllt, und er begann sich betrunken zu fühlen.
Sie warf ihm in einer langsamen Passage einen schmachtenden Blick zu, worauf er schüchtern die Augen niederschlug und errötete. Nicht so sehr ihres Blicks wegen, sondern weil er alles falsch machte, systematisch falsch, obwohl es seinen Absichten entsprechend völlig richtig war.
Er hatte seine Laufbahn als unvorsichtigster und indiskretester Militärattaché begonnen, den Schweden je in Moskau gehabt hatte, und es war nicht ganz einfach, sich so zu verhalten. Doch es war absolut notwendig.
Als sie endete, applaudierte er heftig und riß dabei einen großen Teil des Speisesaals mit. Draußen vor den Fenstern hatte sich inzwischen die Abenddämmerung gesenkt, und die großen Sterne auf den Kremltürmen glitzerten schon in hellem Rot.
Bevor sie mit dem nächsten Stück beginnen konnte, eilte der deutschsprechende Kellner zu ihr, worauf sie eine kurze, geflüsterte Unterhaltung führten, die damit endete, daß sie mit einem Kopfnicken etwas zu bestätigen schien.
Der Kellner hatte immerhin Verstand genug, nicht sofort zu Carl zu eilen, sondern zunächst etwas anderes zu tun.
Als er dann zu Carl an den Tisch kam und ihm erklärte, er habe in der Bar hinten im Korridor eine Flasche Champagner bestellt, Gold und trocken, hatte sie wieder mit amerikanischer Filmmusik begonnen. Er fragte, wann sie wieder spielen werde, und der beflissene Kellner erwiderte, in zwei Tagen. Carl bestellte für diesen Tag denselben Tisch, was eigentlich nicht möglich war, da Tischbestellungen nur mittels der höheren Bürokratie erfolgten. Aber auch hier half ein reichlich bemessenes Trinkgeld.
Carl nickte und verlangte seine Rechnung, die sich auf neunzig Rubel belief. Das kam ihm nicht ganz billig vor, aber er bezahlte trotzdem hundertzwanzig Rubel. Sein Geldscheinbündel wurde allmählich merklich dünner. Aber er sollte ja mit Geld um sich werfen, mit legal erworbenem und nicht schwarz gewechseltem Geld.
Er trank den Rest aus seiner Flasche leer, was ihn eine gewisse Überwindung kostete, wartete dann eine Pause in der Musik ab, klatschte Beifall, verneigte sich kurz zu der Pianistin und ging.
Der Kellner holte ihn beim Ausgang ein, bedankte sich herzlich und redete ihn auf deutsch mit Herr Graf an, folgte ihm in den Korridor und zeigte flüsternd auf den Eingang zur Bar »Wostok« am Ende des dunklen Ganges. Diese bestand aus einem einzigen düsteren kleinen Raum mit schummeriger Beleuchtung und einem Glastresen an einem Ende. Am Eingang ein Schild, auf dem es hieß, daß nur westliche Währungen und die üblichen Kreditkarten akzeptiert würden. Carl ging zu seiner Erleichterung auf, daß er seine Kreditkarten noch in der Brieftasche hatte. Er war davon ausgegangen, daß er sie in Moskau nicht brauchen würde, was sich schon bald als grundlegender Irrtum erwies.
An einem der braunen Bakelittische in einer Ecke stand ein Sektkühler mit einer Sektflasche und zwei Gläsern. Die Bar war nur halbvoll, und Carl sah mehr Frauen als Männer. Das waren wohl die berühmten »Schwalben« von KGB und GRU? Wenn sie Schwalben waren, hatten sie natürlich keine Schwierigkeiten, an der Wache im Erdgeschoß vorbeizukommen oder ihre Erfrischungsgetränke mit Dollar zu bezahlen. Wenn sie allein oder in Gesellschaft mit Kolleginnen saßen, tranken sie nur Limonade.
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